Freitag, 04. Februar 2022. Ich knie auf dem Boden, am Schreibtisch habe ich es nicht mehr ausgehalten. Alle paar Minuten lade ich die Webseite neu. Erst passiert gar nichts, dann plötzlich eine Fehlermeldung. Irgendwie funktioniert das hier alles nicht so, wie es soll. Erste Verzweiflung macht sich breit. Ich versuche mich einzuloggen, immer wieder. Aber. Es. Funktioniert. Einfach. Nicht.

Ich blicke auf die Uhr, die Anmeldeseite sollte nun schon längst live sein. Aber ich kann sie nicht sehen. Bestimmt sitzen gerade viele Leute wie ich vor dem Laptop, tippen persönliche Daten und Kreditkarteninformationen ein.. Vielleicht zu viele? Vielleicht bin ich schon zu spät? Aaaaaaaaaaaaaaaah. Es hilft nichts, ich kann mich nicht einloggen, obwohl ich mein Profil schon vor zwei Monaten für das Anmeldesystem habe freischalten lassen. Langsam aber sicher sinkt mein Herz immer tiefer. Sollte ich nun wirklich ausgerechnet an dieser Hürde scheitern?

In Windeseile lege ich ein neues Profil an, mit einer anderen E-Mail-Adresse. Das letzte Mal hat es mehrere Tage gedauert, bis das Profil freigeschaltet wurde. Ich beginne bereits, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es dann dieses Mal eben nicht klappt.

Nach einer halben Stunde die erlösende Mitteilung: “Your application has been approved.” Schnell logge ich mich mit diesem neuen Profil auf der Webseite ein, diesmal funktioniert es. Und ich scheine noch nicht zu spät dran zu sein. Nun bin ich die, die persönliche Daten und Kreditkarteninformationen eintippt. Mein Herz rutscht von ziemlich weit unten wieder in Richtung des rechten Flecks. Ein paar Minuten später die unscheinbare, aber frohe Nachricht in meinem Postfach: “Hi Kathrin, you were just charged £125 (GBP) for your membership to Spine Race. ” Und damit stand dann auch das Motto für mein gesamtes Laufjahr 2022 fest.

Auch wenn ich mich für die “kurze” Variante des Spine Race angemeldet habe – jenem Ultralauf, der im Original einmal den kompletten ~430 km langen Pennine Way in Nordengland entlang führt:  Der Sprint (das ist jetzt kein unsympathisches Understatement von mir, sondern der offizielle Name dieser Distanz) würde auf jeden Fall eine Herausforderung werden. Die Kilometer waren nicht das Problem, ich war 2021 beim UTCT ja schon die 65 Kilometer gelaufen, die noch dazu deutlich mehr Höhenmeter hatten als der Pennine Way, und insgesamt ganz gut durchgekommen.  Die wahren Herausforderungen des Spine Race sind ganz anderer Natur:

Unberechenbares und mitunter extremes Wetter, viel Matsch (bzw. je nach Wetterlage auch Eis und Schnee), lange Dunkelheit, keine sonst meist üblichen Versorgungspunkte und eine ausufernde Liste an Pflichtausrüstung lassen die eigentliche Distanz und das Laufen selbst fast in den Hintergrund rücken.

Eigentlich kommt mir das sehr entgegen, denn mit dieser Art von Herausforderungen habe ich durch meine vielen Wander- und Radtouren in den letzten Jahren insgesamt doch deutlich mehr Erfahrungen gesammelt als mit dem Laufen von langen Strecken. Und trotzdem: Wenn beides zusammenkommt, wächst daraus eine ganz neue Art von Herausforderung. Gleichzeitig liegt wohl genau darin in gewisser Weise der Reiz für mich. Denn auch wenn ich in den letzten Jahren bei einige klassischen Laufveranstaltungen mitgemacht habe: Ich werde wohl nie diejenige sein, die dafür trainiert, einen Berg noch zehn Minuten schneller hochzusprinten. (Was vielleicht teilweise auch einfach daran liegt, dass ich in Sachen Bergsprint nicht sonderlich gesegnet bin, haha…)

In den letzten Jahren habe ich beim Laufen nie ein großes Ziel verfolgt. Ich wusste nur, dass es mich vor allem auf die langen Distanzen zieht, einfach weil es das schon immer getan hat. Nicht umsonst habe ich mir für meine erste richtige Mehrtageswanderung damals direkt eine dreimonatige Tour durch Großbritannien ausgesucht. Doch jetzt hatte ich plötzlich ein Ziel. Ein großes sogar. Und eines, das durchaus ein wenig spezielles Training verlangte. Wie das wohl werden würde?

Die Anmeldung zum Spine Race war bereits Anfang Februar, und der Gedanke an diesen Lauf, der ein knappes Jahr später stattfinden würde, hatte mich in gewisser Weise das ganze Jahr 2022 über verfolgt und mein Lauftraining bestimmt.

Es gießt wie aus Strömen? “Gutes Training fürs Spine Race.” Es ist dunkel und kalt? “Gutes Training fürs Spine Race.” Die Beine sind schwer, ich bin unmotiviert oder müde? “Gutes Training fürs Spine Race.” Mehr als um Kilometer oder Höhenmeter ging es bei meinen Läufen in 2022 vor allem darum, mich an das Unangenehme zu gewöhnen und das Laufen unter erschwerten Bedingungen zur Normalität werden zu lassen.

Natürlich bin ich nicht konstant durch den Schlamm gerobbt oder hab mich ständig zu irgendwelchen Läufen gezwungen,  aber ich habe doch vermehrt versucht, mir meine Läufe etwas schwerer zu machen, als sie es vielleicht sein müssten. Bin mitten durch die Pfütze gelaufen statt drumherum. Oder über den weichen Sand der Reitwege statt den harten Schotterweg nebenan. Um nicht nur den Körper, sondern vor allem auch den Kopf an das zu gewöhnen, was kommen sollte.

Die erste Hälfte des Jahres war ich viel unterwegs, habe neben Wanderungen, Radtouren und meiner ersten kleinen Packraft-Tour eher versucht, überhaupt hier und da einen Lauf dazwischen zu schieben. Anschließend bin ich im Frühsommer nochmal innerhalb der Niederlande umgezogen, und während ich an meinem vorherigen Wohnort von relativ viel Asphalt umgeben war, kann ich nun kreuz und quer über ein riesiges Heide-, Wald- und Dünengebiet flitzen, das quasi vor meiner Haustür beginnt. Das kam nicht nur meinen Trainingskilometern, sondern auch meiner Moral zugute. Mein letztes Paar (durchgelaufene) Straßenlaufschuhe habe ich kurz nach dem Umzug entsorgt – und nie wieder nach Nachschub gekauft.

Im Juni war ich bei den 47 Kilometern des Losheimer Trailfests dabei, das im Rahmen des Draußen am See-Festivals im Saarland stattfand, über das ich als Bloggerin berichtet habe. Eine ziemlich tolle und empfehlenswerte Veranstaltung der eher kleineren und familiären Sorte…

… und damit ein großer Kontrast zum UTMB, bei dem ich rund zwei Monate später war. Nicht als Läuferin, aber als Support-Crew, und das ist bei einem 100-Meilen-Lauf vermutlich fast genauso anstrengend wie das Laufen selbst. Es war faszinierend und durchaus auch inspirierend, ein paar Tage lang dem verrückten Treiben zuzusehen, wenn sich die gefühlt gesamte Trailrunnerschaft der Welt in einem kleinen Ort in den französischen Alpen trifft, um einmal rund um den Berg zu laufen. Und gleichzeitig habe ich zu keinem Zeitpunkt so richtig den Drang verspürt, mich jemals selbst dafür anzumelden. Irgendwie zu groß, zu pompös – und viel zu wenig Schlamm auf den Trails?!

Lust aufs Laufen inmitten von hohen Bergen hatte ich aber dennoch, und das war auch gut so, denn eine Woche nach dem UTMB stand meine nächste Laufveranstaltung im Kalender. Im kleinen Bergdorf Grächen im Schweizer Wallis angekommen sollte sich jedoch schnell herausstellen, dass es bei diesem Kalendereintrag bleiben sollte. Zwei Tage vor Start erwischte mich eine fiese Erkältung – glücklicherweise so fies, dass ich gar nicht erst zweimal darüber nachdenken musste, ob ich nicht doch irgendwie die rund 60 Kilometer und 4.000 Höhenmeter bei der Ultra Tour Monte Rosa schaffen könnte. Das machte immerhin die Entscheidung einfach. Ich war traurig über mein erstes DNS (“did not start”), und gleichzeitig merkte ich, dass es irgendwie doch “nur” irgendein Lauf gewesen wäre, an dem mein Glück nicht hing (wenn auch bestimmt ein ziemlich toller, allein schon wegen der gigantischen Kulisse). Ein DNS beim Spine Race wäre definitiv deutlich schwerer zu verkraften, so viel war sicher.

Nach einem Sommer in den Bergen (und anderswo) und viel Einfach-so-in-der-Gegend-Herumlauferei habe ich mich dann wirklich verstärkt aufs Spine-Training konzentriert. Meine Wanderung auf dem Wicklow Way in Irland und eine anschließende Woche im Snowdonia Nationalpark in Wales kamen da gerade recht. Dort konnte ich meine angepeilten Schuhe und ein paar andere Ausrüstungsgegenstände unter einigermaßen authentischen Insel-Bedingungen testen und mich daran erinnern, wie das so ist,  in den Bergwelten Großbritanniens (und Irlands) unterwegs zu sein. Und ich stellte (mal wieder) fest: Es gibt wohl keine Landschaft, in der sich meine Füße und mein Kopf so sehr zuhause fühlen wie dort. Na wenn das mal keine vielversprechende Erkenntnis ist!

Um ein bisschen Abwechlung in meine Lauferei zu bringen  habe ich mich im Herbst spontan noch für den Duinentrail Schoorl angemeldet. 35 Kilometer, ein großer Teil davon über holländischen Westküsten-Sand. Eine zähe Angelegenheit, aber irgendwie auch cool, zumal die Gegend dort wirklich zu den besten Trailrunning-Gefilden gehört, die die Niederlande zu bieten haben.

Gemeinsam mit dem Trainingspensum habe ich auch das Gewicht auf meinem Rücken nach oben geschraubt und meinen Laufrucksack mit Reispackungen, Wasserflaschen und anderem Gedöns gefüllt, das einzig und allein dem Zweck diente, mich an das Laufen mit Gewicht zu gewöhnen. Die kreativste Rucksackfüllung waren wohl zwei Dosen Chilibohnen, die ich in weiser Voraussicht jedoch ungeöffnet ließ.

Kurz vor Weihnachten war es dann tollerweise sogar noch eine Weile eisig kalt, sodass ich sogar meine Mikrospikes, Winterhandschuhe und andere Ausrüstung testen konnte, die ich auf dem Pennine Way potenziell brauchen werde. Und mit dem Rucksackinhalt wuchs auch meine Nervosität, die zum Glück nur selten von der Vorfreude zu unterscheiden war.

Nach Weihnachten war der Großteil meines Trainings erledigt, ich organisierte noch letzte Ausrüstung, joggte ein bisschen vor mich hin… bis er plötzlich da war: Der Tag meiner Abreise nach England. Wo ich wenige Tage später bei dem Lauf am Start stehen sollte, den ich in den letzten Jahren so oft online verfolgt hatte. Denn seit mir 2016 während meiner Wanderung auf dem Pennine Way jemand vom Spine Race erzählt hat, ging mir dieses Rennen einfach nicht mehr aus dem Kopf (obwohl ich damals mit Laufen noch gar nichts am Hut hatte).

Es lag ein Laufjahr hinter mir, dass in gewisser Weise ganz anders gewesen war als die Jahre zuvor. Zum ersten Mal war ich einem konkreten Ziel entgegen gelaufen. Ich glaube, es verging keiner der 365 Tage, an dem ich nicht zumindest einmal das Wort “Spine Race” gedacht hatte. Und gleichzeitig ist es mir gelungen, meiner Laufdevise auch weiterhin treu zu bleiben und vor allem so zu laufen, wie es sich richtig anfühlt. Die Linie zwischen ausreichend Training und zu viel Training ist oft schmal, und ich bin schon ein bisschen stolz darauf, dass ich es irgendwie geschafft habe, nicht auf eine der beiden Seiten zu kippen. Am Ende des Jahres hatte ich das Gefühl, eine deutlich stärkere Läuferin zu sein als noch ein Jahr zuvor, und das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass so ein Training keineswegs linear verläuft und unterwegs immer viel schief gehen kann. Gleichzeitig fühlte ich mich gesund, ausreichend ausgeruht und einfach bereit für das, was kommen sollte (oder zumindest so bereit, wie man sich vor so einem Vorhaben eben fühlen kann). Mit so einem Gefühl auch nur in die Nähe einer Ultra-Startlinie zu kommen, ist glaube ich allein schon Grund genug zur Dankbarkeit.

Das Ziel vor Augen, noch dazu eines, das mir ziemlich wichtig ist, hat mir definitiv dabei geholfen, noch mehr aus meinem Lauftraining rauszuholen. Manchmal hat sich das durchaus ein bisschen nach Druck angefühlt, aber meistens nur in den Momenten, in denen ich gar nicht gelaufen bin. Denn wie das eben immer so ist: Wenn man erstmal die Schuhe geschnürt und den verfluchten ersten Kilometer hinter sich gebracht hat, bereut man wirklich in den allerseltensten Fällen, dass man nicht doch auf der Couch geblieben ist. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber immer wieder faszinierend und scheinbar selbst dann noch zutreffend, wenn die Couch-Alternative ein matschiger Lauf in Regen und Dunkelheit mit einem 5-Kilo-Rucksack auf dem Rücken ist. Soooo schlecht kann die Sache mit dem Laufen also WIRKLICH nicht sein. (Ihr solltet das echt mal ausprobieren!!)

Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, dann sehe ich aber kein “hartes Training”, ja eigentlich sehe ich noch nicht mal das Laufen selbst. Ich sehe vor allem unzählige Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, die ich ohne meine Läufe verpasst, Eulen und Adler, denen ich nie begegnet wäre. Ich sehe ganz viel Zeit, die ich nur mit mir und für mich selbst verbracht habe. Berge und Täler, Dünen und Meere, Wälder und Seen, die ich ohne das Laufen vielleicht nie entdeckt, und meine neue Heimat, die ich ohne das Laufen nie so ausführlich erkundet hätte. Ich sehe ein Versprechen, dass ich mir selbst gegeben habe, und das, was passiert, wenn man so ein Versprechen einhält. Und die Erkenntnis, dass der Weg zwar immer das Ziel ist, das passende Ziel diesen Weg aber gleichzeitig erst so richtig wertvoll machen kann.

Meinen Bericht zum Spine Race (inkl. Ausrüstungsliste) wird’s in den kommenden Tagen noch in einem eigenen Beitrag geben. Und während ich den tippe, hänge ich gedanklich schon ein wenig in der Vorbereitung für das nächste große Lauf-Abenteuer, das zumindest die erste Hälfte dieses Jahres maßgeblich mitbestimmen wird…

Es sind aufregende Zeiten, liebe Freunde! Und das alles nur, weil ich damals vor vier Jahren in Schweden mal die Laufschuhe geschnürt habe… verrückt. Einfach verrückt.

Mein Laufjahr zusammengefasst

Kilometer: 2.000
Höhenmeter: 28.000
Längster Lauf: 47 km / 1.800 hm (beim Losheimer Trailfest)
Max. Kilometer pro Woche: 98
Lieblingslaufschuhe: Altra Mont Blanc*
Lieblingslaufsnack: PowerGel Smoothies*
Lieblingslaufbuch: Scott Jurek: Eat and Run* und John Vonhof: Fixing Your Feet*
Lieblingsläufe (Auswahl):

Danke, Beine! <3

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