Zuletzt aktualisiert am 26. Oktober 2024

Mehr Wildnis in Europa? Wie kann das gelingen, und wieso brauchen wir diese Wildnis eigentlich?

Rewilding Europe ist eine Organisation, die sich genau dafür einsetzt: für wildere Landschaften in Europa, aber vor allem auch für das Miteinander von Mensch und Wildnis. Ich war für die Recherche meines zweiten Buches (Fräulein Draußens Gespür für Wildnis) einen Tag lang mit Mitarbeiter*innen der (bisher) einzigen Rewilding-Region Rewilding Oder Delta an selbigem unterwegs und durfte dabei viel über die Arbeit und diese ganz besondere Region und deren Wildnis-Potenzial erfahren. 

In diesem Artikel gebe ich einen Überblick über die Arbeit von Rewilding Europe bzw. Rewilding Oder Delta und erzähle, warum wir wilde(re) Landschaften und ihre Bewohner überhaupt brauchen. 

(Es handelt sich hierbei um einen gekürzten / geänderten Auszug aus meinem Buch, in dem es noch viel mehr zu diesem Thema zu lesen gibt.)

Mit Rewilding Europe unterwegs am Oder-Delta

Der Geländewagen rumpelte über holprige Waldwege, mehr als einmal verfingen sich Zweige zwischen Rädern und Auto. Am Steuer saß Wiebke Brenner, Wildtierbiologin und augenscheinlich auch ziemlich gute Geländewagenfahrerin. Unser Weg war eher eine Fährte, auf der Karte gar nicht existent. Wir folgten ihm trotzdem, denn er schien in die richtige Richtung zu führen: zu einer GPS-Koordinate mitten im Wald.

Immer wieder blieben wir stehen, nicht wegen der Zweige, sondern weil ein Trio Wiedehopfe vor uns herzog, von Baum zu Baum. Etwas früher an diesem Tag waren wir schon mal auf einige von ihnen gestoßen. »So viele habe ich hier noch nie an einem Tag gesehen«, stellte Wiebke irgendwann entzückt fest. Wir kurbelten die Fenster herunter, um den besten Blick auf die rostroten Vögel mit den schwarz-weißen Streifen auf den Flügeln, dem langen Schnabel und den illustren, zu einem großen Fächer aufstellbaren Kopffedern zu haben.

Wiedehopfe habe ich bisher vor allem im südlichen Afrika gesehen. In Deutschland sind sie selten und meistens nur auf dem Durchzug zu beobachten. Nicht so jedoch am Stettiner Haff im äußersten Nordosten des Landes. Das liegt nicht zuletzt daran, dass hier bereits 2013 spezielle Nisthilfen für die Vögel angelegt wurden, die gut von den Vögeln angenommen werden. Das mit dem Nisten ist für Wiedehopfe gar nicht so einfach: Sie benötigen Höhlen mit einem Einflugloch von mindestens fünf Zentimetern Durchmesser, und in unseren aufgeräumten Wäldern sind solche Höhlen mitunter schwer zu finden. Zudem gibt es da auch noch die Stare, die ähnliche Brutmöglichkeiten bevorzugen und den Wiedehopfen, die erst gegen Mitte April in Deutschland eintreffen, oft erfolgreich die Nistplätze streitig machen.

Kurz nach der Wiedehopfbegegnung trat Wiebke wieder ruckartig auf die Bremse: Ein großer Vogel brach direkt vor uns durch die Bäume. So groß, dass er kaum zwischen den dicht gewachsenen Kiefern hindurchzupassen schien, den Wald plötzlich klitzeklein wirken ließ. Ein Seeadler, daran bestand wenig Zweifel. Ich hielt den Atem an, doch noch bevor ich ausatmete, war der Vogel schon wieder aus unserem Sichtfeld verschwunden. Wir rumpelten beseelt weiter. An der Stelle, wo der GPS-Punkt gesetzt war, scannten wir alle Bäume, konnten jedoch nichts erkennen. Ein weiterer Blick auf die Karte verriet uns, dass wir doch noch eine Waldkreuzung weiterfahren mussten.

Kamerafallen an Kreuzungen aufzuhängen, ist oft sinnvoll, denn auch Wildtiere nutzen gern vorhandene Straßen und Wege. Dabei bleibt dann natürlich nicht aus, dass auch das ein oder andere menschliche Tier in die Falle tappt. Ein Forstmitarbeiter zum Beispiel, der den Weg ganz offensichtlich regelmäßig befuhr und wusste, wo die Kamera hing, winkte jedes Mal freundlich in die Kamera, wenn er vorbeikam. Neben ihm und ein paar meist ahnungslosen Spaziergängern war aber vor allem allerlei Getier auf der Speicherkarte, und wir setzten uns neben dem Baum ins trockene Gras, um die Daten auf dem mitgebrachten Laptop zu sichern. Zahlreiche Rehe befanden sich darauf, ein Habicht, eine Rotte Wildschweine, ein einsamer Wolf und etwas, das vielleicht eine Wildkatze hätte sein können, aufgrund der Nähe zu einer Siedlung aber vermutlich eher eine umherstreunende Hauskatze war.

Das war unsere Ausbeute dieser Kamera, die nur eine von rund zwanzig war, die wir an diesem Tag kontrollieren wollten: Daten sichern, bei Bedarf Batterien tauschen, zu hoch gewachsenes Gras und Gestrüpp vor der Kamera entfernen und vor allem auch überprüfen, ob die Kameras überhaupt noch an Ort und Stelle waren. Es kommt nicht selten vor, dass diese gestohlen werden, obwohl ein Infozettel an der Kamera darauf hinweist, welchem Zweck die Kameras dienten und dass Aufnahmen von Personen direkt wieder gelöscht würden. Mithilfe der Kameras wollen Wiebke und ihre Kolleginnen und Kollegen mehr darüber erfahren, wie es um die Fauna und deren Lebensweise hier im nordöstlichsten Eck Mecklenburg-Vorpommerns bestellt ist.

Hier mündet zwischen Deutschland und Polen die Oder ins Stettiner Haff, einen rund 70 000 Hektar großen Brackwasserbereich, der durch die vorgelagerten Inseln Usedom und Wollin von der Ostsee abgetrennt ist. Rund um das Haff reihen sich vielfältige Landschaftsformen – von Steilküsten mit alten Buchenwäldern über weitläufige Flussniederungen und Auenwälder bis hin zu intakten Mooren, ausladenden Heidelandschaften und Waldflächen sowie vielen kleinen und großen Seen. Ein Potpourri der Natur, oft verhältnismäßig einsam und unberührt, mit einer großen Viel- falt an Tieren und Pflanzen. Durch seine Lage und Beschaffenheit ist dieses Areal einer der zentralen ökologischen Knotenpunkte in Mitteleuropa – und somit wie gemacht für die Stiftung Rewilding Europe, die vor allem ein Ziel verfolgt: Europa (wieder) wilder machen.


„Die Sehnsucht nach Wildnis zog Kathrin Heckmann alias Fräulein Draußen jahrelang raus in die Welt. Aber muss man wirklich weit reisen, um die Wildnis zu spüren? Um das herauszufinden, tauscht Kathrin ferne Reiseziele gegen heimische Gefilde. Denn wo könnte man der Essenz von Wildnis besser auf die Spur kommen als dort, wo sie objektiv betrachtet am schwersten zu finden ist? Zu Fuß, per Rad und Boot erkundet sie die unterschiedlichsten Landschaften Deutschlands. Immer auf der Suche nach diesem ganz besonderen Gefühl von Verbundenheit zur Natur, von Freiheit und Abenteuer, das längst nicht nur im australischen Outback oder der patagonischen Steppe verborgen liegt (auch wenn es dort vielleicht leichter zu entdecken ist). Und schnell wird klar: Wildnis kann man weder suchen noch finden. Wildnis kann man nur geschehen lassen.“


Was ist Rewilding?

Im Jahr 2015 wurde Rewilding Oder Delta als achte sogenannte Rewilding-Region ins Leben gerufen. Zuvor war (und ist) die Organisation bereits im Norden Portugals, dem Donau-Delta, den südlichen Karpaten, in Kroatien, im italienischen Apennin, in den bulgarischen Rhodopen und in Schwedisch Lappland aktiv. Zuletzt kamen auch eine Region in Schottland und ein Teil des iberischen Hochlands in Spanien hinzu. Der Grundgedanke, dass die Natur am besten und auch am effizientesten selbst für ihr Gleichgewicht sorgen kann, steckt hinter dem Naturschutzkonzept des Rewilding. Durch bestimmte unterstützende Maßnahmen soll in den Ökosystemen wieder mehr Natürlichkeit zugelassen werden, sodass in Zukunft möglichst wenige bis keine Eingriffe nötig sind. Dadurch sollen bedrohte Tier- und Pflanzenarten wieder mehr Lebensraum bekommen, Natur aber auch widerstandsfähiger gegen den Klimawandel und Naturkatastrophen werden. Natürliche Flussläufe mit Auen wirken zum Beispiel als Puffer gegen Hochwasser, intakte Moore als effizienter Kohlenstoffspeicher, naturbelassene Wälder brennen weniger schnell und weniger intensiv.

Eine der Besonderheiten des Rewilding-Konzepts ist dabei, dass Menschen nicht aus der Natur ausgesperrt werden sollen, wie es zum Beispiel bei Kernzonen von Nationalparks in gewisser Weise der Fall ist. Vielmehr soll der Mensch durchaus Zugang zu dieser wilderen und möglichst intakten Natur haben und die Wildnis genießen können. Gleichzeitig sollen die Menschen vor Ort auch direkt davon profitieren können. Der Tourismus und Ortsansässige werden bei Rewilding Europe immer mitgedacht, und vielleicht ist das der insgesamt vielversprechendste Weg hin zu mehr flächendeckender Wild nis in unseren dicht besiedelten Breitengraden.

Es geht bei Rewilding also weniger um den Schutz einzelner Tierarten oder Landschaftsformen, sondern um das Schaffen von Rahmenbedingungen, unter denen Naturlandschaften wieder wilder werden können:

Rewilding Lapland zum Beispiel arbeitet daran, gemeinsam mit dem dort heimischen indigenen Volk der Sámi Korridore für die Wanderung von Tieren zu schaffen. Rewilding Velebit in Kroatien fördert die natürliche Beweidung weitläufiger Graslandschaften. Und Rewilding Apennines setzt sich unter anderem für ein besseres Miteinander von dem stark gefährdeten Marsischen Braunbär und Mensch ein.

Große Pflanzenfresser und Raubtiere spielen beim Rewilding nicht die einzige, aber eine wichtige Rolle. Weniger wegen der Tiere selbst, sondern wegen der tragenden Funktion, die sie in einem Ökosystem innehaben. Arten wie Wisent (also der europäische Bison), Wolf oder Geier sind es, die unseren Landschaften oft für ein echtes, natürliches Gleichgewicht fehlen. Und auch uns Menschen scheinen diese großen, faszinierenden Tiere zu fehlen, sonst würden wir wohl nicht so oft eine Safari im afrikanischen Busch oder eine Bärenbeobachtungstour in Nordamerika buchen.

Große Tiere, und wie sie uns helfen können

»Wir haben immer mal wieder Elche, die über die polnische Grenze zu uns herüberwandern«, erzählt Wiebke, als wir uns auf die Suche nach der nächsten Kamerafalle machen. »Und auch Wisente grasen gar nicht viel weiter östlich von hier. Mit unseren polnischen Partnern zusammen wollen wir die Ausbreitung dieser Tiere fördern – und mehr darüber herausfinden, welche Hindernisse wie Straßen oder Industrieanlagen sie in ihren Wanderungen einschränken, und wie wir sie dabei unterstützen können.« Während Tiere wie Luchs und Elch noch seltene Gäste auf der deutschen Seite des Oder-Deltas sind, haben sich andere längst erfolgreich etabliert.

So ist das Mündungsgebiet der Oder einer der besten Plätze in ganz Europa, um Seeadler zu beobachten und zu fotografieren. Der größte Adler Mitteleuropas war in den großflächigen, waldreiche Seen- und Flusslandschaften sowie an der Küste Pommerns und Vorpommerns früher weitverbreitet. Durch Bejagung, zunehmende Industrialisierung an der Oder und immer intensivere Landwirtschaft – die übliche unheilvolle Mischung also – wurde er jedoch so weit zurückgedrängt, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg fast ausgestorben war. Das Ende der DDR und der dadurch bedingte Niedergang von Industrie und Landwirtschaft in der Grenzregion von Deutschland und Polen waren zumindest für die Seeadler die Rettung. Und vielleicht sind die Adler in Zukunft wiederum die Rettung für die wirtschaftlich schwache Region.

Im Jahr 2017 buchte einer von fünf Touristen auf Island eine Whalewatching-Tour. Auf der schottischen Insel Mull generiert Seeadler-Watching zwischen fünf und acht Millionen Pfund jährlich. Und auch rund um das Oder-Delta ist der Naturtourismus schon heute eine wichtige Einnahmequelle. Gleichzeitig ist die Anwesenheit beziehungsweise Rückkehr großer Tierarten natürlich auch mit Problemen behaftet. Vor allem auch, wenn diese nicht von allein geschieht, sondern bewusst unterstützt wird, folgen lange und mitunter emotionale Diskussionen und Debatten. Insbesondere größere Beutegreifer stehen dabei in (vermeintlicher) Konkurrenz zum Menschen.

Gerade die spielen als sogenannte Schlüsselarten jedoch eine besondere Rolle im Ökosystem. Als „keystone species“ werden in der Ökologie Arten bezeichnet, die schon mit vergleichsweise wenigen Vertretern ein Ökosystem überproportional beeinflussen können. Und die, sofern sie in einem Ökosystem fehlen, nicht durch andere Arten in ihrer Funktion ersetzt werden können. Seeotter gehören zum Beispiel dazu, die sich zu einem großen Teil von Seeigeln ernähren, die wiederum hauptsächlich Seetang fressen, ohne den viele Fischbestände zusammenbrechen würden. Und ohne kleine Fische gäbe es keine Raubfische wie den Lachs, ohne den wiederum Tiere wie Seevögel und Bären ein Problem haben. Ein anderes Beispiel ist der Hai, der gemeinsam mit einigen anderen großen Raubfischarten kleinere Raubfische in Schach hält. Wenn diese sich zu stark vermehren würden, dann würden die Planktonfresser überhandnehmen, wodurch wiederum die Korallenriffe unter einer Überlast von Algen schlichtweg ersticken würden. Und auch der Wolf als großer Beutegreifer ist zum Beispiel eine solche Schlüsselart, dessen Funktion wir momentan mit dem Einsatz von viel Geld und Munition zu ersetzen versuchen.

© Theo Grüntjens

»Nach der langen Abwesenheit vieler großer Säugetiere müssen wir das Zusammenleben als Gesellschaft neu lernen; das bedeutet auch, politisch die richtigen Rahmenbedingungen für potenzielle Konfliktfälle zu schaffen«, – mit Mensch-Wildtier-Konflikten kennt Wiebke Brenner sich bestens aus, denn nach ihrem Studium der Internationalen Entwicklung und Wildlife Biology & Conservation beschäftigte sie sich interdisziplinär mit naturschutzbedingten Landnutzungskonflikten und Mensch-Wildtier-Koexistenz in Ländern wie Tansania und Südafrika. Mit jenen Ländern also, für die Wildtier-Tourismus einerseits vielerorts essenziell ist und die andererseits die mit Abstand höchste Dichte potenziell gefährlicher Tiere haben.

»Dort ist ja viel mehr Platz«, könnte man nun entgegnen. Aber wenn ein Elefant dein Haus umnietet oder ein Leopard sich dein Baby schnappt, ist es eigentlich ziemlich egal, wie viel Platz es drumherum noch so gibt. Und dennoch gäbe es selbst hierzulande wohl einen großen Aufschrei, wenn beispielsweise die Regierung von Tansania plötzlich anordnen würde, alle Leoparden abzuschießen.

Fest steht: Das Zusammenleben von Mensch und Tier ist komplex, egal ob es nun um Wölfe in Niedersachsen oder den Maulwurf im Garten geht. Aber es ist möglich. Und vor allem auch schlichtweg notwendig. Da ist sich Wiebke sicher.

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