[Gastbeitrag] Jede und jeder Reisende kann sie wohl erzählen, diese kleinen (und großen) Geschichten vom Mut auf Reisen. Kann erzählen von diesen Momenten, in denen man über sich hinauswächst – oft sogar ohne es zu merken – und mit einem Mal das Gefühl hat, dass einem die ganze Welt gehört. Marianna  berichtet in diesem Artikel von genau so einer Geschichte. Sie saß noch nie länger als 4 Stunden im Flugzeug, kann quasi kein Wort Spanisch und macht sich dennoch alleine auf nach Kuba, um das Land dort auf ihre ganz eigene Art und Weise zu entdecken.


Dieser Artikel ist Teil meiner Reihe “Outdoorfrauen-Spezial”, in der ich auch anderen Frauen, die abenteuerlich Reisen und das Draußensein lieben, die Möglichkeit geben möchte, ihre Geschichte zu erzählen. Mehr Infos dazu und wie Du selbst mitmachen kannst findest Du hier.


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Centro Habana, Montagabend. Es müsste 22 Uhr sein, doch so richtig weiß ich es nicht. Mein Handy liegt in der Wohnung und ich sitze auf dem Balkon mit Blick auf die Calle San Miguel, den ich momentan nicht genießen kann. Mein Gehirn realisierte sehr zügig, dass bei dem einfachen Handgriff des Türschließens irgendwas nicht stimmt. Stichwort Handgriff. Griff, es gibt keinen. Es kam, wie es scheinbar kommen musste. Ich sperrte mich in der ersten Nacht in Havanna auf dem Balkon aus. Das einzige, was ich bei mir trage, ist eine selbstgedrehte Zigarette und ein Feuerzeug. Eher weniger hilfreiche Mittel in so einem Moment und in meiner Jugend schaute ich nie MacGyver, um zu wissen, wie ich daraus ein Befreiungswerkzeug basteln könnte. Die Stressader an meiner Stirn hat längst aufgehört zu puckern, jetzt läuft mir nur noch der karibische Schweiß herunter.

Ich wiege meine Optionen ab. Runterklettern: Coole Aktion, aber sich möglicherweise die Knochen zu brechen weniger. Draußen schlafen: Ändert nichts an der Tatsache, dass ich am nächsten Morgen auch wieder rein muss. Ich frage mich innerlich, was mich geritten hat, denn ich war noch nie soweit verreist und abgesehen von meinem 3-Wochen-Eigenkurs spreche ich kaum ein Wort Spanisch.

Doch ich wäre nicht ich, wenn ich kein Fuchs wäre und nach einer kurzen Verzweiflungsphase kommt mir das Wort “entra” in den Sinn, das ich ohne zu zögern zwei alten Männern auf der gegenüberliegenden Straßenseite unaufhörlich zurufe. “No entra, no entra” ist das Zauberwort. Der eine Mann steht auf, geht zum Eingang und binnen weniger Sekunden höre ich die Balkontür von innen aufgehen. Meine Casa Abuela lacht, ich lache über meine eigene Dummheit mit ihr.

Mittlerweile weiß ich, dass es das Wort “entra” gar nicht gibt, aber ich lag zumindest nicht so falsch. Ich kann in meinem Bett schlafen, vollkommen erschöpft und glücklich mit der Tatsächlichkeit in Gedanken, dass meine Reise auf Kuba schon längst begonnen hat.

Nach unseren anfänglichen Schwierigkeiten zwischen mir und der Stadt wurden wir in den kommenden Tagen richtig gute Freunde. Auch wenn ich als Großstadtbewohnerin lieber das Weite suche, muss nach meinem Empfinden Havanna gesehen, gerochen, gelaufen, gegessen und getrunken werden. Weder im Taxi sitzend den berühmten Malecón entlangfahren (lassen), noch in einer touristischen Gaststätte den nächsten Cuba Libre bestellen, den es in Wahrheit gar nicht gibt. Laufen, die Füße benutzen! Jede Straße mit all ihren prunkvollen Kolonialbauten, jeder Innenhof in seinem persönlichen Verfall und jeder kleinste Winkel, an dem ich vorbeikomme, versteckt mehr kubanisches Leben als eine Cohiba je qualmen könnte. Die Stadt ist langsam und schnell, ruhig und laut, freundlich und knallhart zugleich. Ich führe Gespräche mit Einheimischen auf English, Spanisch, mit Händen und Füßen. Bewundere die Gräben in der brütenden Mittagshitze auf der Cementerio de Colón bis mir das Wasser ausgeht und besuche Che Guevara auf der Plaza de la Revolución, dem ich ein leises “Gracias El Comandante” zuwinke. Das Capitolio wird für mich selbstverständlich, auch wenn es seit langer Zeit für Touristen wegen Baumaßnahmen geschlossen ist und die Calle San Miguel in Centro Habana zu meiner Straße. Ich liebe keine Großstadt, aber ich liebe Havanna. Die Menschen mit ihrer ehrlich ungehemmten Neugier und Offenheit, das jeden Tag anders schmeckende Ropa Vieja und die sich durch die Straßen ziehende Flötenmelodie eines Messerschleifers.

Das einzige, wovon ich versuche Abstand zu halten, sind die Touristen. Auch wenn ich selbst eine bin. Doch als ein scheinbar Gleichgesinnter mit einer Hasselblad Kamera in seiner Hand an mir vorbeischlendert, schiebe ich die letzte Gabel Reis mit schwarzen Bohnen in den Mund und spreche ihn mit einer mir selbst nicht bekannten Selbstsicherheit an. Er heißt Samuel und kommt ursprünglich aus Alaska. Wir spazieren durch die Straßen, tauschen unsere Bewunderung für Havanna aus und lassen uns von einem jungen Kubaner überreden in eine Bar zu gehen, die wir sonst nie wahrgenommen hätten. So verbringen wir auf einer eher versteckten Terrasse den Abend, im La Terraza de Compostela und lassen die Zeit in der karibischen Hitze einfach dahin schmelzen, während im Hintergrund eine Band mit handgemachter Musik die Nacht ankündigt.

Die Unterhaltungen sind angenehm, mein Getränk namens Compostela grün und lecker. Ich nenne es “liqiud salad” und hoffe, am folgenden Tag keine Nachwirkungen davon zu tragen. Es vergehen Stunden, der Schlaf ruft. Nach einer geteilten gemeinsamen Taxifahrt in einem Oldtimer, welcher nur noch aus der Hülle eines Autos besteht, verabschieden wir uns mit einem “See you in Viñales!”. Ich bin angetrunken, müde und zufrieden.

Nach vier Tagen voller Eindrücke, grob 85.000 Schritten und leichtem Sonnenbrand höre ich die Natur nach mir schreien. Valle de Viñales, laut Reiseführer für kubanische Verhältnisse ein Wanderparadies.

Auf dem Weg dorthin über die Autopista Nacional Richtung Westen klebe ich an der Fensterscheibe meines Taxi Collectivos wie eine Algenrennschnecke im Aquarium. Statt Ausschilderungen für die nächste Raststätte mit Weltmächten von Fastfood-Ketten sieht das Touristenauge Plakate mit Fidel Castro und Che Guevara, oft mit “Socialismo o muerte” in Kombination. Der Regen fängt an und damit auch meine Müdigkeit. Ich fühle mich wie ein Kind nach einer aufregenden Achterbahnfahrt und schlafe sofort ein.

Im strömendem Regen angekommen, die nass klebrigen Klamotten gegen luftig trockene Latzhose ausgetauscht ziehe ich los, denn ich möchte das Örtchen begrüßen. Ich sehe die unwirklichen Farben am Himmel nach dem Schauer, die bunt gestrichenen Häuser in den Straßen von Viñales und das Licht in der Abenddämmerung. Meine Verzauberung wird durch den Anblick und den umliegenden Mogoten verstärkt und ich komme aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Valle de Viñales, du hast mein Herz schon jetzt.

Viele Menschen wünschen die Gesellschaft anderer, ich hingegen verbringe gern meine Zeit allein. Es fordert meine Gehirnzellen heraus und alles um mich herum gehört nur mir. Wenn die Sonne brennt, brennt sie nur für mich und wenn ich in die falsche Richtung laufe, dann nur, weil ich mich nicht hetze an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit zu sein.

Das unerwartete Auftauchen von Sam, meinem Gleichgesinnten aus Alaska, ließ mich trotzdem euphorisch von meinem Stuhl springen, als ich ihn am Eingang des Mogote Cafés am Abend erblickte. Wie er scheinbar auch, bin selbst ich von meiner Offenheit überrascht. So fühlt es sich also an, in natürlicher Freiheit genossene Verhaltensweise, ohne Hemmungen. Er und sein neuer Begleiter Josh setzen sich zu mir, meine Müdigkeit verdampft in Sekunden.

Mit Cerveza in der Hand und Livemusik im Ohr beschließen wir, am Folgetag den Sonnenaufgang aus der Cueva de la Vaca, einer Höhle in der Valle de Palmarito, anzusehen. 4 Uhr morgens scheint uns eine gute Zeit zu sein und darüber belustigend, wer tatsächlich am verabredeten Ort anwesend sein wird, verabschieden wir uns in die kurze Nacht. Erfreut über die Begegnung und gespannt auf den kommenden Morgen schlafe ich sofort ein.

Sam ist der erste und hinter seiner Brille verstecken sich die müden Augen. Josh als Ideengründer lässt sich Zeit, taucht aber leicht verspätet dann auch auf. Wir witzeln über unser Vorhaben und fragen uns, was wir hier eigentlich machen. Ich stelle fest, dass der Saft meiner Stirnlampe zur Neige geht, aber wir ziehen los, Richtung kubanische Walachei. Im Licht der Taschenlampen sehen wir nur unsere Schritte und was in drei Metern vor uns liegt. Zu der besagten Höhle gelangt man über die Finca Raúl Reyes, einer Obst- und Tabakplantage, aber in unsere Planung haben wir nicht einkalkuliert, dass diese am frühen Morgen möglicherweise nicht zugänglich sein wird und so ist es auch. Vor geschlossenem Tor stehen wir im Dunkeln nach dem Sonnenaufgang ächzend und entscheiden uns dazu, rebellisch über den Zaun zu klettern. Ein auf der anliegenden Farm bellender Hund verunsichert uns in dieser Entscheidung und schnell wird aus dem rebellischen Gefühl ein eher kriminelles. Wir stellen uns den aufgebrachten Raúl mit Schrotflinte in der Hand vor und so langsam wie wir reingehüpft sind, so schnell hüpfen wir wieder hinaus. Privatgrundstück ist auch auf Kuba Privatgrundstück und uncool, wenn man dies als Gast nicht respektiert. Doch es nützt alles nichts, unser Abenteuerlust hat Blut geleckt und wir spazieren zielstrebig weiter in die Valle rein. Wir schweigen mehr als wir reden und lachen zwischendurch los, ohne ein Wort zu sagen. Wir laufen einfach, ohne wirklich zu wissen wohin. Würde meine Polizistenfreundin Anne oder meine besorgte Mutter davon erfahren, was ich in diesem Moment mache, bekäme ich sicherlich von beiden Seiten eine Backpfeife. Zwei Fremde und ich kleines zartes Wesen, im Morgengrauen am anderen Ende der Welt mitten in der kubanischen Pampa.

Die undefinierbaren Formen in der Dunkelheit wirken gruselig und selbst die zwei Jungs mit ihrer Faszination die Welt zu bereisen, zucken bei dem leisesten Rascheln zusammen. Ich habe nichts zu befürchten, denke jeden gelaufenen Meter nur an das klischeehafte Hier und Jetzt und ich liebe es.

An einem großen, ungewöhnlich blätterlosen Ceibabaum angekommen, finden wir, dass es an der Zeit ist auf den Sonnenaufgang zu warten. Der kleine Buddha neben Jesus sitzend, das verteilte Kleingeld und der Schädel eines Tieres deuten auf das Heilige hin. Sam baut seine Kamera auf, Josh und ich versuchen raus zu finden, was hin und wieder an uns mit Sicherheitsabstand vorbeitrabt. Wir sind seit über einer Stunde unterwegs, die Sonne jedoch lässt scheinbar hier genauso auf sich warten wie die Berliner S-Bahn. Geduld ist etwas, das man auf Kuba als allererstes üben lernt, denn die Zeit vergeht hier einfach langsamer.

Sam ist in der Dunkelheit verschwunden und mir schaudert es ein wenig, weil ich außer der sich langsam andeutende Sonne nichts sehe. Ich bin jederzeit bereit loszurennen, falls eine der hörbar großen Fledermäuse sich in meinen zusammengewurschtelten Haaren verfangen sollte. Josh und ich lachen viel, Sam schießt konzentriert Fotos. Wir sitzen auf dem Stamm des Ceibabaums, schauen auf den Himmel und hören den ersten Hahn den Tag ankündigen. „We are so close!“ sagen wir, als wir die dunkelblaue Farbe des Himmels in einen Orange verwandeln sehen. Die dürren Gestalten einiger Pferde zeichnen sich im heller werdenden Licht ab, so lüftet sich auch das Geheimnis der Trabgeräusche.

Wir sehen den Weg, den Baum und seine Äste, den alten Pferdewagen hinter uns und die Landschaft, durch die wir ohne Sicht durchgewandert sind. Der Morgen ist da, der Sonnenaufgang vorbei. Er war  eigentlich unspektakulär, aber unsere gemeinsam verbrachte Zeit in Valle de Viñales umso mehr. Nur noch die zwei im hohen Gras still und heimlich liegenden Riesenkühe können uns hier vertreiben, die wir während unseres Wartens nicht ein einziges Mal bemerkten. Wir bedanken uns bei der Natur, bei der langsamen Sonne und bei den Fledermäusen und begeben uns auf dem jetzt endlich sichtlich feuerroten Pfad zurück in den Ort. Auf Josh wartet die Weiterfahrt nach Cienfuegos, auf Sam der nachzuholende Schlaf und auf mich das frische kubanische Frühstück in meiner Casa.

Wir sind Alleinreisende, auf der Suche nach dem Sonnenaufgang und schmeißen uns ins kalte Wasser in fremden Ländern, um zu sehen, wie weit wir schwimmen können. Und manchmal, manchmal schwimmen wir eben für eine kurze Zeit zusammen.

Nach zwei Monaten zu Hause auf meinem Balkon sitzend, wo ich die Tür auch von außen aufmachen kann, schreibe ich diese Geschichte. Ich schaue auf meine in Quadrat gebräunten Füße, erinnere mich an all die Erlebnisse und daran, mit welcher Freiheit ich diese genoss. Ich frage mich jedoch nicht ein einziges Mal, wo meine Angst während dieser Reise geblieben ist. Ich stelle fest, dass wir manchmal 8000 km irgendwo hinfliegen müssen, um so mutig zu sein, wie wir es in der eigenen Stadt nie sein könnten.


Über die Gastautorin

Marianna ist Fernwehhaberin mit Leidenschaft. Sie zählt Entfernungen in Wanderkilometern und Geldbeträge in Reisebudgets. Sie hat Mut zu großen Schritten und entdeckt Natur, Land und Leute mit kindlicher Begeisterung und erwachsenem Interesse.

Ihr eigener Blog ist auch schon in Planung. Und bis es soweit ist, kannst Du ihren Abenteuern hier auf Instagram (@go.on.foot) folgen!


Mariannas Ausrüstungstipps

Trekkinghose Women’s Barents Pro von Fjällräven

Daunenjacke Women’s Lumin Jacket von Mountain Equipment

Tagesrucksack Women’s Sirrus 26 Daypack von Osprey


Werbehinweis: Vielen Dank an die Bergfreunde, die meine Gastartikelreihe mit Gutscheinen für die Autorinnen unterstützen. Alle verlinkten Produkte und noch viele weitere fürs Wandern, Klettern, Bergsteigen, Mountainbiken (…) findest Du dort im Onlineshop.

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Kennst Du sie auch, diese Momente auf Reisen, in denen man einfach mal etwas tut, ohne großartig darüber nachzudenken oder sich gar Sorgen zu machen? In denen man einfach mal ganz man selbst ist und den Moment genießt? Dann erzähl mir doch ein bisschen davon unten im Kommentarfeld! Das wär toll.

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