[Gastartikel] Der Plan stand, die Rucksäcke waren gepackt und unsere Anreise per Flugzeug von Basel nach Bastia und auf Schienen weiter nach Tattone verlief reibungslos. Wir wollten Berge und unberührte Natur. Wir wollten uns verausgaben und danach noch einige entspannte Tage am Meer verbringen. All das kann Korsika. Und so stehen wir nun am Campingplatz Le Soleil im Zentrum der Mittelmeerinsel, hoch motiviert für ein Wanderabenteuer, das ich als Gelegenheitswanderin so zuvor noch nie hatte:

Der Grande Randonnée 20 ist der erste Fernwanderweg, den ich gehen würde. Auf insgesamt etwa 180 Kilometern und 15 Tagesetappen führt er in Nord-Süd-Richtung über Stock und Stein durch das raue, zerklüftete Hochgebirge Korsikas. 10.000 Höhenmeter hinauf und wieder hinunter. Der hohe Schwierigkeitsgrad auf den sechs alpinen, nördlichen Etappen, die wir uns ausgesucht haben, ist neu für mich. Was da genau auf mich zukommen wird, kann ich nur schlecht einschätzen. Wir steigen auf halbem Wege ein und wandern nordwärts. Auf etwaige Schlechtwetterprognosen beim Tourenstart hätten wir so reagieren und spontan in den flacheren Süden aufbrechen können. Doch Petrus scheint uns wohlgesonnen – GR20 gen Norden. Start: Tattone.


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Tag 1: Trödelgefahr

Tattone – Petra-Piana
Strecke 12,5 km – Aufstieg 1080 m – Abstieg 110 m

Es ist ein trügerisch gemütlicher Einstieg zum GR20 durchs magische Manganello-Tal – so zum warm werden. Der Weg führt stetig, aber erstmal nur marginal aufwärts durch den Wald, begleitet vom Plätschern des Wassers. Davon gibt’s hier reichlich. Unter jedem Felsvorsprung kann sich ein weiterer kristallklarer Badegumpen verbergen. Reinspringen empfohlen! Aber Vorsicht: Trödelgefahr.

Die Bergerie de Tolla lädt zu einem ausgiebigen zweiten Frühstück ein. Es gibt frische Eier, guten Kaffee und korsischen Ziegenkäse – garniert mit Tütensuppe, weil der Rucksack leichter werden muss.
Danach hat das locker-lässige Spazierengehen ein Ende und das Wandern beginnt. Die Sonne brezelt, die Oberschenkel brennen und die ersten Energieriegel bekommen nun Gelegenheit, ihre Wirkungskraft unter Beweis zu stellen. Wohliges Tannengrün hiesiger Kiefernwälder weicht zunehmend den grauen Felsausläufern des Monte Rotondo. Auf den letzten drei von insgesamt etwa 13 Kilometern Strecke knautscht sich der Weg zu steilen Serpentinen, die endlos scheinen und mir einiges abverlangen. Kaum vorzustellen, ein Refugio hier in den Felsen. Aber wahr!

Tag 2: Hart aber herrlich

Petra-Piana – Refuge de Manganu
Strecke 8,6 km – Aufstieg 630 m – Abstieg 870 m

Leicht verspätet, aber dafür maximal entspannt nach einer Runde Steh-auf-Yoga für Anfänger starten wir Tag 2 in selbige Richtung, wie der erste endete: aufwärts! Mit Hilfe von ausreichend Allgäuer Latschenkiefer Bein-Balsam und der Vorfreude auf eine Etappe mit den besten Bergwelt-Panoramen Korsikas erreichen wir auf 2.206 Metern Höhe den Gebirgspass Bocca Muzzella.

Während bisher die bloße Ausdauer den Schwierigkeitsgrad bestimmt hat, sind von nun an Schwindelfreiheit und Technik gefordert. Horizontal wie vertikal faltet sich hartes Granitgestein zum Hochgebirge auf. Schafft bizarre Formationen, Stufen, Spalten und Schutt. Fordert Konzentration und Kletterkünste entlang eines gratförmigen Hauptkamms, der die ganze Insel durchzieht. Jetzt nicht grübeln. Weitergehen. Nicht die Beine sind es, sondern der Kopf, der mich an kniffligen Stellen gerne mal im Regen stehen lässt. Apropos Regen – der ist bei dieser Etappe sowieso gleich gar keine Option! Die Gratwanderung spitzt sich zu bis auf die 2.245 Meter hoch gelegene Brèche de Capitello. Der Blick vom Bergsattel auf das mächtige Felsmassiv und die darin eingebetteten Gletscherseen ist herrlich. Allein dieser Moment rechtfertigt nicht nur jegliche Strapazen der letzten Stunden sondern auch eine ausgiebige Schokoladen-Pause, bevor der steinige Abstieg zum Refugio beginnt.

Tag 3: Wiesen, Weiden, Wälder

Refuge de Manganu – Castellu di Vergio
Strecke 15,7 km – Aufstieg 400 m – Abstieg 620 m

Ein bisschen stolz bin ich schon auf das, was wir gestern geleistet haben. Umso mehr freue ich mich auf eine Etappe, die zwar etwas länger ist, aber auf der auch Schlurfen mal erlaubt ist. Trotz der Höhenlage auf 1.743 Metern wirkt das Gelände um den Gletschersee Lac de Nino weitläufig und flach. Wie schlimm kann ein Sturz auf der dichten, flauschigen Rasenfläche, die den See umgibt, schon sein? Es läuft sich wie auf einer Yogamatte. Obwohl die zahlreichen Pools und Rinnsale, die sich in Richtung See schlängeln, weitestgehend ausgetrocknet sind, spürt man unter den Sohlen doch die Feuchtigkeit, die in der schwammigen Grasmatte gespeichert ist.

Es ist das Auenland des GR20 und ein Weide-Eldorado für die sehr anhänglichen Wildpferde, die es sich nicht nehmen lassen, sich an unserem ausgiebigen Picknick zu beteiligen. Auch die restlichen der insgesamt knapp 16 Wald- und Wiesenkilometer bleiben locker, luftig, lässig. Gedankenlos die Blicke schweifen zu lassen, ohne jeden Schritt kontrollieren zu müssen, ist das pure Glück. Begleitet von einem hungrigen Magen und nicht weniger hungrigen Wildschweinen zieht sich das letzte Waldstück allerdings nochmal leidig in die Länge. Am Castellu di Vergio angekommen hat uns die Zivilisation vorübergehend wieder. Das kann man jetzt finden wie man will, aber die Pasta, der Wein und das Eis am Stiel aus dem kleinen Laden beim Hotel: überragend!

Tag 4: Heute mal Wellness

Castellu di Verghio – Refuge Ciuttulu di i Mori
Strecke 8,4 km – Aufstieg 650 m – Abstieg 50 m

Nachdem wir den Straßenpass Col de Vergio überquert haben, erwandern wir uns Schritt für Schritt die korsische Wildnis zurück. Es ist eine entspannend kurze Etappe. 8,4 Kilometer und 650 Meter Aufstieg sind zum höchstgelegenen Refugio des GR20 zurückzulegen. Wir gehen es langsam an, folgen dem Verlauf des Golo taleinwärts in Richtung Quellgebiet. Der längste und wasserreichste Fluss Korsikas schneidet sich seinen Weg durch den Fels, modelliert Skulpturen, füllt Badegumpen und schleift Gesteinsplatten, die uns als bequeme Sonnenplätze dienen. Während der aufgeheizte Stein Spannungen und Wehwehchen im Rücken lindert, freuen sich die beanspruchten Füße im Wasser baumelnd über eine Abkühlung. Erst dicht aufziehende Wolken und fernes Donnern können uns dazu überreden, das Wellnessprogramm abzubrechen, um möglichst trocken das Refugio zu erreichen – Ciuttulu di i Mori: ein Berghütten-Träumchen!

Tag 5: Das Matterhorn Korsikas

Refuge Ciuttulu di i Mori – Refuge Tighiettu
Strecke 6,6 km – Aufstieg 200 m – Abstieg 620 m

Der große Regen ist uns erspart geblieben. Nur schweren Herzens räumen wir unser Camp beim Refuge Cittulu di i Mori direkt am Fuße der Paglia Orba. Sogar beim Pinkeln könnte die Aussicht besser nicht sein. Während der Fels bisher eher gelblich-grau schien, nimmt er hier eine seltsam rötliche Färbung an und verleiht der Königin der korsischen Berge in der Sonne ein rot glühendes Krönchen. Das Gepäck haben wir im Refugio verstaut und so lässt sich der Gipfel auf 2.525 Metern Höhe ganz unbeschwert erklimmen.

An das Matterhorn Korsikas wage ich mich jedoch nicht heran. Man sollte kletterversiert sein und schon genau wissen, was man tut. Wir geben uns mit der eindrucksvollen Silhouette zufrieden und wandern entlang der Flanke zum Bergrücken Bocca di Foggiale – Startpunkt für mühsame 620 Höhenmeter Abstieg ins Tal. Über steile Stufen und loses Geröll kann man sich mit achtlosen Tritten ruckzuck auf den Hosenboden setzen oder – schlimmer – umknicken. Erst jetzt beim langen Bergabgehen merke ich, wie sehr mir die letzten Tage in den Gliedern stecken. Die Füße fühlen sich an wie Blei. Sprung- und Kniegelenke wie Wackelpudding. Mein Durchhalten wird belohnt mit korsischem Kastanienkuchen an der Bergerie de Ballone und einem Bad im „Naturpool“. Das Ziel immer vor Augen bleibt der letzte, kurze Anstieg zum Refuge Tighiettu ein Klacks.

Tag 6: „Ich bin raus!“

Refuge Tighiettu – Haut-Asco
Strecke 8,7 km – Aufstieg 1020 m – Abstieg 1280 m
Gipfeltour zum Monte Cinto: Auf- und Abstieg 200 m (ca. 2 Stunden zusätzlich)
Ausstieg von der Bergerie de Ballone nach Calasima: 3,7 km – Abstieg 380 m; Pendelbus Calasima – Haut-Asco

Ich habe lange drüber nachgedacht. Gestern beim Abstieg war die Sache entschieden. Eine warme Dusche und heiße Suppe später, eingemummt in meinen Schlafsack, war ich schon wieder positiver gestimmt. Sollte ich diese letzte, schwere Etappe aussetzen? Klettertechnisch kam ich an Tag 2 schon an meine Grenzen. Der Abschnitt heute legt wohl noch eine gute Schippe drauf. Der berüchtigte „Cirque de la Solitude“ wurde nach einem Erdrutsch im Juni 2015 ausgemustert, wird nicht mehr in Stand gehalten und ist nur noch von Profi-Bergsteigern begehbar. Die Alternativ-Route ist nochmal deutlich länger, aber deshalb nicht weniger technisch. Für meine drei Mitstreiter nichts weiter als eine Herausforderung, die es anzupacken gilt. Für mich – mit müden Beinen und geschwollenen Füßen? Nein. Sorry, ich bin raus! An verschiedenen Punkten entlang des ganzen, weiten Weges, kann man in den GR20 ein- bzw. entsprechend auch aussteigen. Hier ist einer davon.

Es ist mein Geburtstag. Zum Frühstück gibt’s lecker Kuchen, dann mache ich mich ohne die anderen auf den Weg zurück zur Bergerie de Ballone und weiter hinab ins Tal bis ins Bergdörfchen Calasima. Ein wunderschön einsamer Waldspaziergang, den ich sehr genieße – stets mit der Paglia Orba im Rücken. Zweimal am Tag bringt ein Busshuttle Schluffis wie mich vom höchsten Ort Korsikas nach Haut-Asco und umgekehrt. Während der abenteuerlichen Umfahrung kommt mir allerdings der Gedanke, ob es vielleicht nicht doch sicherer gewesen wäre, den anspruchsvollen Fußmarsch zu riskieren.

Alles gut, ich komme heil am einstigen Skiort an. Gegen 18 Uhr abends dann auch die anderen. Sogar die zwei Zusatzstunden für die Gipfelbesteigung des höchsten Berges Korsikas, den 2.706 Meter hohen Monte Cinto, haben sie gemeistert und sich die Abschluss-Sause im Restaurant des Hôtel Le Chalet damit mehr als verdient. Na ja, und ich hab’ ja Geburtstag.

Fernwandern auf dem GR 20 auf Korsika – alle Infos

Die Route

Der GR 20 ist ein Fernwanderweg mit alpinem Character auf der Mittelmeerinsel Korsika. Die Route folgt auf 180 km dem Hauptkamm der korsischen Alpen von Nordwest nach Südost. Startpunkt ist in Calenzana in der Nähe von Calvi, das Ziel in Conca. Der Großteil der Tour führt dabei durch den Naturpark „Parc Naturel Régional de Corse“. Je nach Zeitplanung sind etwa 15 Tagesetappen für den gesamten  Weg notwendig.

Anforderungen

Auf dem GR 20 wandert man zu großen Teilen durch Gelände über 1.500 Meter mit Hochgebirgscharakter und fernab von Zivilisation. Er gilt als der schwierigste Fernwanderweg Europas und verlangt sehr gute Kondition, Trittsicherheit, Erfahrung in alpinem Gelände und Schwindelfreiheit. Zudem sind auch einige Kletterstellen zu überwinden. Die Orientierung ist dank der rot-weißen Markierungen meist relativ einfach, wobei man sich vor allem im Fall von schlechter Sicht natürlich nie allein darauf verlassen und immer zusätzlich noch Karte und Kompass oder ein GPS mit sich tragen sollte.

Die beste Jahreszeit für den GR 20

Der GR 20 ist nur zwischen Mitte Juni und Ende Oktober frei von Schnee und Eis und damit ohne größere Probleme begehbar. Die Hütten sind in der Regel von Anfang Juni bis Ende September mit Hüttenwarten besetzt.

An- und Abreise

Die Hafenstadt Bastia liegt an der Nordküste Korsikas und ist sowohl per Flugzeug als auch per Fähre gut zu erreichen. In der warmen Jahreshälfte gibt es Direktflüge von vielen deutschen bzw. europäischen Städten. Fährverbindungen gibt es von Frankreich (z.B. Marseille und Nizza) und Italien (z.B. Livorno und Genua). Bei einer Anreise mit dem Zug kann man also von Deutschland, Österreich und der Schweiz aus auch relativ einfach sehr klimafreundlich nach Korsika reisen. So ist zum Beispiel Marseille ab Köln mit einem Umstieg in Brüssel per ICE unt TGV gut zu erreichen. Auf Korsika selbst kann man per Bus und/oder Zug zum Start- bzw. Endpunkt der Wanderung kommen.

Tipp: Überschüssiges Gepäck kann im „Objectif Nature“ in Bastia deponiert werden.

Verpflegung und Unterkünfte

Entlang des GR 20 gibt es insgesamt 14 einfache Schutzhütten (Refuges), die über Matratzenlager, eine Küche und einfache Sanitäranlagen verfügen. Zudem gibt es an den Hütten auch Zeltplätze, denn Wildzelten ist entlang des GR 20 nicht erlaubt und das wird durchaus auch kontrolliert. Sowohl Hüttenschlafplätze als auch Stellplätze für Zelte müssen vorgebucht werden.

Während der Sommermonate bieten mittlerweile alle Hütten Getränke und warme Mahlzeiten an. Ein Nachkauf von Lebensmitteln ist unterwegs allerdings nur eingeschränkt möglich, vor allem auch wenn man keine Umwege in Kauf nehmen möchte. Daher sollte man – insbesondere auch in der Nebensaison, wenn die über Hütten wenig oder keine Lebensmittel verfügen – genau planen und lieber ein paar Notfall-Riegel mehr im Rucksack tragen.

Weitere Infos

Als Wegweiser bewährte sich der Wanderführer von Rother*, der die in diesem Artikel beschriebene Route allerdings in umgekehrter Richtung beschreibt. Vorsicht, Rückwärtslesen ist gar nicht so einfach!


Über die Gastautorin

Claudia ist 39 und hauptberuflich Grafikdesignerin. Der Grundstein für ihren Reiseblog Gone Walkabout wurde schon gelegt, als sie 2005 alleine aus meiner Schwarzwälder Heimat loszog, um Australien und Neuseeland zu erkunden. Damals schon war ihr die Wildnis lieber als der Großstadtdschungel. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Einfach raus – in den Schwarzwald, die korsischen Berge oder den südafrikanischen Busch. Am liebsten zu Fuß, mit Kaffee, Kamera und ganz viel Zeit im Gepäck.

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Warst Du auch schon mal auf dem GR 20 unterwegs? Oder planst Du eine Tour und hast noch Fragen? Wir freuen uns auf Deinen Kommentar!

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