(Gastartikel) Im Februar 2022 ist Gastautorin Johanna aufgebrochen, um von der kleinen Insel Zypern bis hoch ans Nordkap in Norwegen zu reisen. Ohne Zelt, nur mit Hängematte im Gepäck wollte sie ausprobieren, wie sie da draußen ganz auf sich allein gestellt zurechtkommt. Entlang ihrer Route hat sie sich im Vorfeld mehrere Weitwanderwege herausgesucht: darunter der Alpe-Adria-Trail in den Alpen und der Olavsweg in Norwegen. Die Distanzen dazwischen hat sie per Bus, Bahn, Schiff oder oft auch per Anhalter zurückgelegt. Fünf Monate war sie insgesamt unterwegs, ist dabei insgesamt ungefähr 2000 Kilometer gewandert.

Einen Teil davon hat der Lykische Weg ausgemacht: Ein insgesamt rund 500 Kilometer langer Weitwanderweg in der Türkei, der die Städte Fethiye und Antalya verbindet und größtenteils der Küstenlinie folgt. In diesem Wanderbericht erzählt Johanna von ihrer Zeit auf dem Trail. Vom großen Glück, aber auch von unerwarteten Schwierigkeiten und zahlreichen Herausforderungen. Außerdem gibt sie Tipps für alle, die ebenfalls eine Weitwanderung auf dem Lykischen Weg wagen wollen.

Sprung ins kalte Wasser

Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und einem warmen Kribbeln im Bauch steige ich aus dem Bus. Ich freue mich wahnsinnig auf die nächsten vier Wochen, die vor mir liegen – denn endlich werde ich auf einem richtig langen, durchgängig markierten Wanderweg unterwegs sein.

Auf Zypern war ich zuvor zwei Wochen lang über die Insel getingelt, hatte mir einfach selbst Strecken rausgesucht und verschiedene Tagestouren miteinander verbunden. Ich hatte mich also bereits »eingewandert«, mich an das Gewicht des Rucksacks auf meinem Rücken gewöhnt und freute mich nun darauf, mir keine Gedanken mehr machen zu müssen, wie ich von einem Punkt zum nächsten kommen würde. Denn ich würde laufen: vier Wochen lang gemütlich vor mich hin spazieren. Hoffentlich viele andere Wanderer treffen, die vielleicht auch draußen schlafen würden und mit denen ich mich austauschen und abends gemütlich am Lagerfeuer sitzen könnte.

Mit durchdringendem, etwas skeptischem Blick mustert mich der Mann hinter dem Tresen, als ich ihm ungeduldig ein paar Lira-Scheine in die Hand drücke. Ich stehe am Eingang des Göynük Canyons, den ich als Startpunkt für meine Wanderung auf dem Lykischen Weg auserkoren habe.

Es ist der erste markierte Weitwanderweg in der Türkei und in meinem Wanderführer steht, dass die Halbinsel Lykien zwar schon in Homers Ilias erwähnt wurde, doch dass dieser südwestlichste Zipfel des Landes noch bis 1988 fast weitestgehend isoliert war. Erst dann wurde die heutige Küstenstraße gebaut, die Antalya mit der Hafenstadt Fethiye – dem eigentlichen Startpunkt des »Likya Yolu« – verbindet. Die meisten Wanderer werden deshalb wohl in entgegengesetzter Richtung unterwegs sein. Doch da es für mich nach der Türkei weiter nach Griechenland geht, habe ich mich entschieden, den Weg lieber von Ost nach West zu laufen.

Als ich am ersten Abend gemütlich in meiner Hängematte baumle, versuche ich mich voll und ganz auf die neuen Geräusche und Gerüche um mich herum zu konzentrieren. Ich lausche dem stetigen Rauschen des Flusses und dem schaurigen Hu-huhuhuu eines Waldkäuzchens. Ich rieche Salbei, Lorbeer und Oleander und schaue entzückt dabei zu, wie die ersten Sterne über mir zu funkeln beginnen. Doch so richtig entspannen kann ich mich nicht. Nur zwei Menschen bin ich heute begegnet – und beide haben mich vor den nächsten Etappen, die vor mir liegen, gewarnt. Erst der Kassierer hinter dem Tresen, der mir mit eindringlicher Stimme zuraunte: »Manche Leute schaffen es den Fluss zu überqueren, manche nicht.« Und dann ein drahtiger, älterer Wanderer, der mir aufgeregt erzählte, wie er vor zwei Tagen auf dem Tahtalı-Sattel ausgerutscht und fast in den Abgrund gestürzt wäre. Dort liege noch so viel Schnee und Eis, dass er trotz GPS-Gerät kaum den Weg gefunden hätte.

Es ist Anfang März und ich weiß, dass ich eigentlich ein bisschen früh dran bin und deshalb in den Bergen höchstwahrscheinlich noch auf Schnee stoßen werde. Lange habe ich deswegen hin und her überlegt, wo auf dem Lykischen Weg ich einsteigen soll.  Über 500 Kilometer und über 16.000 Höhenmeter hinauf und wieder hinunter muss man nämlich zurücklegen, wenn man den gesamten Likya Yolu laufen möchte. Und eigentlich hatte ich geplant, einfach irgendwo in der Mitte einzusteigen. Bis ich erfuhr, dass erst ab Anfang April wieder Fähren zwischen der Türkei und Griechenland verkehren. Somit habe ich nun eine ganze Woche länger Zeit als ursprünglich geplant. Und obwohl die Etappen durch den Göynük Canyon und über den Tahtalı-Sattel zu den anspruchsvollsten gehören, habe ich mich entschlossen, sie einfach mal zu probieren.

Als ich am nächsten Tag im Nieselregen zwischen den hohen Felswänden des Göynük Canyons stehe und ungläubig auf die rotweißen Wegmarkierungen blicke, die mich eindeutig durch das hier bestimmt hundert Meter breite Flussbett führen, bekomme ich leichte Zweifel, ob das wirklich eine so gute Idee war. Überall verstreut ragen glattgeschliffene Felsbrocken empor, in flottem Tempo strömt das Wasser darüber, darunter, und um sie herum. Doch die Strömung und die Felsen scheinen nicht das größte Problem zu sein: Viel mehr Sorgen macht mir ein kleiner, natürlich entstandener Pool direkt zu meiner Linken, der ganz schön tief zu sein scheint. »Manche Leute schaffen es den Fluss zu überqueren, manche nicht.« Mir fallen die Worte des Kassierers wieder ein.

Was ich nun in der nächsten Stunde dort im Canyon veranstalte, lässt mich noch Wochen später nur mit dem Kopf schütteln: Da ich ja schlecht mit meinem dicken Rucksack einfach ins Wasser springen kann, schnappe ich mir meinen schwarzen Turnbeutel, der mir sonst als Proviantbeutel dient, und stopfe so viele von meinen Sachen wie möglich hinein. Nur noch mit Unterhose und langärmligen Top bekleidet lege ich mir den Beutel auf den Kopf, drücke ihn mit meiner linken Hand fest herunter und wate vorsichtig ins Wasser. Schon nach zwei Schritten tauche ich bis zum Bauchnabel ein und schnappe erschrocken nach Luft. Verdammt, ist das kalt! Es fühlt sich an wie tausend Nadelstiche und beim nächsten Schritt finden meine Füße keinen Halt mehr. Bis zur Nasenspitze versinke ich im eiskalten Wasser. Aufgeregt paddeln meine Beine und mein einer Arm wie wild drauf los, um meinen Kopf irgendwie über Wasser zu halten. Doch das Gewicht des Beutels drückt mich immer wieder hinunter und ich schlucke ordentlich Wasser. Hustend, prustend und ein bisschen in Panik taste ich blindlings nach der Felswand. Als meine Finger endlich wieder Stein zu fassen bekommen, finden auch meine Füße wieder Boden unter sich. Schnaufend klettere ich auf der anderen Seite aus dem Wasser. Doch der Spaß ist noch nicht vorbei. Erst muss ich noch über einige Felsen balancieren und wieder knietief durchs Wasser, bis ich das andere Ufer erreicht habe. Mit zitternden Händen lasse ich den Inhalt meines Turnbeutels auf die Kieselsteine fallen, dann mache ich mich zähneklappernd auf den Rückweg. Ganze Viermal muss ich diese eiskalte Prozedur wiederholen, bis endlich alle meine Sachen am anderen Ufer sind.

Am Abend bin ich so erschöpft, dass ich es nicht einmal mehr schaffe, meine Hängematte zu spannen.  Ich lege meine Isomatte einfach direkt auf den moosbewachsenen Boden des kleinen Wäldchens, in dem ich mich gerade befinde, und schließe die Augen. Über zehn Stunden bin ich heute durchgewandert und habe dabei kaum etwas gegessen oder getrunken. Ich war viel zu aufgeregt und der Weg hat meine komplette Aufmerksamkeit beansprucht. Ich war voll im Moment. Kein Platz für andere Bedürfnisse, Zweifel oder Sorgen. Besonders während der Stunde im Canyon war ich wie in einem Tunnel. Mein Gehirn lief dabei aber nicht auf Autopilot, sondern war hochkonzentriert, jede Synapse bis zum Zerreißen gespannt – ein geniales Gefühl!

Bevor ich zu dieser Reise aufgebrochen bin, hatte ich über zwei Jahre in England in einem Outdoorcenter gearbeitet. War dort mit den Gästen geklettert, gepaddelt und hatte ihnen gezeigt, wie man ein Feuer ohne Feuerzeug oder Streichhölzer entfacht oder wie man einen Unterschlupf für die Nacht bauen kann. Ich hatte also tagtäglich Menschen dabei begleitet sich Herausforderungen und auch den eigenen Grenzen zu stellen, hatte ihnen erzählt wie wichtig es ist, hin und wieder die eigene Komfortzone zu verlassen, um neue Dinge kennen zu lernen – und genau das wollte ich auf dieser Reise auch unbedingt tun. Denn nur wenn man weiß, wo die eigenen Grenzen überhaupt verlaufen, kann man irgendwann vielleicht auch über sie hinauswachsen.

Zwischen Grenzerfahrung und ganz großem Glück

Als am Tag darauf allerdings der über zweitausend meterhohe, strahlendweiße Tahtalı Dağı am Horizont auftaucht, entscheide ich schweren Herzens, dass dieser Berg wohl eine Nummer zu groß für mich mit meinem 20-Kilo-Rucksack und meinen 1,62m Körpergröße wäre.  Am Vortag war ich nämlich noch einem weiteren Wanderer begegnet, der mir ein Video gezeigt hat, auf dem er bis zur Hüfte im Schnee steckend zu sehen war. Dieser Wanderer war fast zwei Meter groß gewesen! Um also nicht bis zur Nasenspitze im Schnee zu versinken, folge ich seinem Rat und umgehe den TahtalıSattel lieber auf einer dreitägigen Küstenvariante des Likya Yolu.

Eine sehr gute Entscheidung, denn obwohl ich noch ein paar lästige Erdrutsche überqueren muss, spaziere ich in den darauffolgenden Tagen an traumhaften Buchten entlang – eine schöner als die andere! Die Ginsterbüsche strahlen am Wegesrand um die Wette, die kalabrischen Kiefer strömen einen herrlichen Harzgeruch aus und das Meer glitzert azurblau in der Sonne.

In Cirali trifft die Küstenvariante wieder auf den ursprünglichen Lykischen Weg. Staunend stehe ich vor den berühmten ewigen Flammen, die hier schon seit dem Altertum brennen sollen. Verschiedene chemische Gase steigen aus dem Erdinneren auf, entzünden sich mit dem Sauerstoff in der Luft und lassen so die tänzelnden Flammen direkt über dem Boden entstehen.

Ich laufe von einem Flammenfeld zum nächsten und entdecke ein paar Männer, die sich köstlich duftende Würstchen über einer der Flammen grillen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Da sich in meinem Proviantbeutel nur noch ein paar Nüsse und Haferflocken befinden, überlasse ich kurzerhand meinem knurrenden Magen das Kommando. Ein New Yorker Pärchen, dem ich zuvor begegnet war, hatte mir erzählt, dass sie nicht weit von den ewigen Flammen den besten Fisch ihres Lebens gegessen hätten. Zwei Stunden und sieben Kilometer später sitze ich übers ganze Gesicht strahlend in einem Fischrestaurant in Ulupinar und vor mir auf dem Tisch stehen frittierte Calamari, eine gegrillte Forelle, ein großer Hirtensalat, warmes Fladenbrot, verschiedene Dips und eine kalte Cola. Staunend beobachtet mich der Kellner, wie ich das gesamte Essen innerhalb einer halben Stunde in mich hineinschlinge. Es dauert dann allerdings über drei anstrengende Stunden, bis ich es wieder zurück zu den ewigen Flammen schaffe, denn mit so vollem Magen wandert es sich nicht mehr ganz so schnell!

Als ich am späten Abend gemütlich an meinem Lagerfeuer liege, denke ich darüber nach, dass mein Körper wohl so langsam zu begreifen scheint, dass ich so schnell nicht wieder damit aufhöre, wie ein Irre durch die Gegend zu laufen und dabei auch noch unzählige Kilos auf meinem Rücken mitzuschleppen. Seit meinen ersten Tagen auf Zypern wundere ich mich darüber, wie energiegeladen und wach ich mich jeden Tag fühle – trotz sportlicher Höchstleistungen und so wenig Schlaf wie nie zuvor – und warte eigentlich nur darauf, dass mein Körper irgendwann anfängt, schlapp zu machen. Doch scheinbar passt er sich einfach den neuen Gegebenheiten an. Denn genau jetzt, nach drei Wochen und ungefähr dreihundert Kilometern zu Fuß, fühlt es sich an, als hätte plötzlich jemand einen Schalter in mir umgelegt. Neben dem anfänglichen Gefühl, viel wacher und energiegeladener zu sein und alles um mich herum viel intensiver wahrzunehmen, wird ab diesem Zeitpunkt auch das unbändige Hungergefühl zu meinem ständigen Begleiter – während sich meine Periode in den gesamten fünf Monaten bis zum Nordkap nicht einmal sehen lässt.

Neben diesen körperlichen Veränderungen hat der Lykische Weg aber noch eine ganz andere Überraschung für mich parat: einen fast zwei Wochen andauernden Temperatursturz! Ungläubig lese ich auf meinem Handy von einem tagelangen Schneechaos in Istanbul und Athen und es dauert nicht lange, da fallen auch an der lykischen Küste die Temperaturen nachts bis unter den Gefrierpunkt.

Zitternd liege ich in meinem dünnen Sommerschlafsack. Nur indem ich die ganze Nacht ein Feuer in Gang halte oder mir mehrmals das Wasser meiner Trinkflasche aufkoche und sie als Wärmflasche mit in den Schlafsack nehme, kann ich diese eiskalten Nächte irgendwie überstehen.

So bringt mich der Likya Yolu ein weiteres Mal an meine Grenzen, denn notgedrungen schlafe ich in den darauffolgenden Tagen viel öfter drinnen, als ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Für mein Reisebudget ist das gar nicht so schlimm, denn auf dem Lykischen Weg findet man in den kleinen Dörfern oft sehr nette, preiswerte »Pansiyonen«, die umgerechnet nur zwölf Euro kosten. Dort bekommt man meist nicht nur ein warmes Bett, sondern  noch ein leckeres Abendessen und ein reichhaltiges Frühstück. Doch meinen sturen Dickkopf kostet es viel Überwindung, von dem ursprünglichen Plan, mir nur alle zwei oder drei Wochen mal eine Unterkunft zu gönnen, abzuweichen und mir einzugestehen, dass diese kalten Nächte mit meinem dünnen Discounter-Sommerschlafsack einfach nicht anders zu bewältigen sind.

»Dinner, Breakfast, Sleep«, schallt es eines Nachmittags in dem kleinen Bergdorf Bogacik an mein Ohr, als ich mir an der Moschee meine Wasserflaschen auffülle. Eigentlich wollte ich es heute noch bis hinunter zur Küste schaffen und dort auch versuchen wieder eine Nacht draußen zu schlafen. Doch der kalte Wind bläst mir so ungnädig ins Gesicht und die nette, türkische Omi grinst mich so erwartungsvoll an, dass ich ihr bereitwillig in ihr bescheidenes Heim folge. Schon bald steht eine herrlich warme Tomatensuppe mit Spinat und Fladenbrot vor mir auf dem Tisch. Gierig schaufele ich das leckere Essen in mich hinein. Als die alte Dame dann aber kurz darauf noch einen weiteren Wanderer die Treppe hinaufführt – einen jungen Mann mit langen, dunkelblonden Haaren, der genauso durchgefroren aussieht wie ich – löffele ich die Suppe nun um einiges langsamer in meinen Mund. Es ist nun fast genau einen Monat her, seit ich auf Zypern gestartet bin, und da so früh im Jahr anscheinend kaum andere Wanderer unterwegs sind,  kann ich an einer Hand die Begegnungen und Gespräche abzählen, die länger als zehn Minuten gedauert haben. Zudem telefoniere ich im Moment kaum mit meiner Familie und meinen Freunden, da ich mir keine türkische Simcard besorgt habe. So langsam macht mir die Einsamkeit ein bisschen zu schaffen.

Auch das hätte ich im Vorfeld niemals erwartet, denn im normalen Leben bin ich eigentlich immer sehr gerne für mich allein und eher die typisch kühle Norddeutsche, die zur Begrüßung lieber aus einem Meter Entfernung winkt als jemanden zu umarmen. Doch mittlerweile sehnt sich mein Körper immer stärker nach Kommunikation und Körperkontakt.

Umso größer ist meine Enttäuschung, als der durchgefrorene Wanderer lieber erst unter die heiße Dusche springt, statt sich zu mir in den kalten Essensraum zu gesellen. Frustriert ziehe auch ich mich dann irgendwann zurück in mein Zimmer und unter meine warme Bettdecke.

Aber dann serviert uns die türkische Omi vor dem Schlafengehen noch eine heiße Kanne Tee, und in meinem Inneren explodiert ein kleines Freuden-Feuerwerk, als ich den jungen Wanderer, der sich als Sam aus Frankreich herausstellt, bereits an einer Tasse Tee schlürfend im Essensraum erblicke.

Es ist wirklich erstaunlich, wie solch kleine Dinge, denen man im Alltag kaum Bedeutung beimisst, beim Wandern und auf Reisen plötzlich wahnsinnig intensive Glücksgefühle auslösen können. Ein weiches Bett, eine warme Dusche, ein schönes Gespräch – und schon schwebt man auf Wolke sieben! Sam und ich sitzen an diesem Abend noch lange zusammen und philosophieren gemeinsam über das Wandern, das Reisen und das Draußenschlafen. Als wir uns am nächsten Morgen verabschieden, kann ich es nicht lassen und schließe ihn sehr lange und sehr fest in meine Arme.

Probier’s mal mit Gelassenheit

Noch eine ganze weitere Woche dauert es, bis es endlich wieder ein bisschen wärmer wird. Eine ganze Woche, in der ich mit der Kälte und mit gelegentlichen Schneeschauern zu kämpfen habe – und trotzdem immer wieder versuche, draußen zu schlafen.

Am Ende dieser Woche sitze ich völlig erschöpft an dem fast zwanzig kilometerlangen Strand von Patara und statt gegen die Kälte kämpfe ich nun mal wieder mit meinem sturen Dickkopf. Fast hundert Kilometer liegen noch vor mir und ich habe nur noch eine knappe Woche Zeit, bis meine bereits gebuchte Fähre von Fethiye nach Rhodos ablegt.

Hinter Patara führt der Likya Yolu um ein mit Treibhäusern übersätes Tal herum und ein Niederländer hatte mir am Morgen erzählt, dass diese drei Etappen nicht gerade zu den schönsten des Weges zählen sollen – doch meinem sturen Dickkopf geht es natürlich gehörig gegen den Strich, auch nur in Erwägung zu ziehen, diese drei Etappen eventuell zu überspringen.

Am Abend liege ich in meiner Hängematte direkt oberhalb eines Steilhangs mit fantastischer Aussicht auf den unendlich langen Patara Beach. Gedankenversunken blicke ich aufs Meer hinaus und atme tief ein. Ich spüre, wie eine gewaltige Last von meinen Schultern fällt, denn fünfzig Kilometer habe ich heute auf dem ledernen Sitz eines Taxis zurückgelegt. Den restlichen Tag habe ich dann damit verbracht, mich wie eine Versagerin zu fühlen, doch so langsam breitet sich eine tiefe Freude in mir aus, die letzten Etappen des Likya Yolu nun ganz entspannt angehen zu können.

Am nächsten Morgen lege ich mich als erstes zwei Stunden lang in die herrlich strahlende Sonne. Nach über zwei Wochen fast ununterbrochenen Frierens fühlt sich die Wärme so unglaublich gut auf meiner Haut an, dass ich vor lauter Glück fast platzen könnte!

Eine wunderschöne Etappe wartet heute auf mich: Begeistert klettere ich von der Küste wieder hinauf in die Berge, laufe an Terrassen mit uralten Olivenbäumen entlang und durch lichte Nadel- und knorrige Eichenwälder hindurch. Als am Nachmittag das mintgrüne Spitzdach der rosafarbenen Moschee des entzückenden kleinen Dorfes Bel in Sicht kommt, winkt mir bereits am Ortseingang eine sympathische ältere Frau aus ihrem Vorgarten zu. Trotz herrlich warmer Temperaturen entschließe ich ganz gelassen, die heutige Nacht in ihrer Pansiyon zu verbringen.

Als ich nach einem kurzen Schläfchen nachschauen will, ob es schon Abendessen gibt, traue ich meinen Augen kaum: Am großen Tisch im Essensraum sitzen tatsächlich sechs munter plaudernde Wanderer. Es wird ein unglaublich lustiger und geselliger Abend, denn die drei Wanderpaare könnten unterschiedlicher nicht sein: ein älteres amerikanisches Ehepaar, zwei türkische Piloten und zwei junge Niederländerinnen, die im Garten ihr Zelt aufgebaut haben.

Überglücklich kuschele ich mich später in mein Bett und schlafe sofort ein, so erschöpft bin ich vom vielen Reden und Lachen.

Am Ende wird alles gut

… und wenn es noch nicht gut ist, ist es auch nicht das Ende!

Natürlich hat der Lykische Weg zum Abschluss aber noch eine letzte Überraschung für mich parat. Denn einer der beiden Piloten verkündet mir am nächsten Morgen freudestrahlend, dass er entschieden hätte, seinen Wandertag heute mit mir zu verbringen. Zuerst weiß ich nicht so recht, ob ich lachen oder weinen soll, denn von allen sechs hätte ich mir ihn wahrscheinlich zuletzt als Wanderbegleitung ausgesucht. Doch da ich gestern so oft erzählt habe, wie einsam ich die letzten Wochen doch war und wie sehr ich mich nach mehr Gesellschaft und Kommunikation sehne, reiße ich mich zusammen und versuche mich wirklich darüber zu freuen, zum ersten Mal seit Beginn meiner Reise gemeinsam mit jemanden zu wandern.

Leider scheint mein erster Eindruck von ihm richtig gewesen zu sein, denn im Laufe des Tages wird der Typ immer unangenehmer und auch ganz schön aufdringlich. Am späten Nachmittag zaubert er dann in einer Bucht auch noch eine komplette Campingausrüstung aus seinem Rucksack hervor und verkündet, dass er mich doch niemals allein hier draußen schlafen lassen würde – das wäre ja viel zu gefährlich für mich! Und obwohl ich für meine Verhältnisse wirklich unhöflich werde, kann ich ihn nicht davon abbringen, sein Zelt aufzubauen – lege meine Isomatte aber demonstrativ mehrere Meter entfernt in den Sand.

Am darauffolgenden Tag muss er dann zum Glück zurück nach Fethiye. Als ich am Abend mein Lager am Rande einer hohen Klippe aufschlage, bin ich unglaublich erleichtert endlich wieder allein zu sein!

Was ich jedoch aus dieser Erfahrung lernen kann: Wie wichtig es ist in solchen Situationen selbstbewusst aufzutreten und klar und deutlich zu kommunizieren was man will, bzw. was man nicht will! Doch das ist manchmal gar nicht so leicht …

Gebannt blicke ich am nächsten Nachmittag hinunter auf die wunderschöne Lagune von Ölüdeniz, über der zahlreiche Gleitschirmflieger elegant ihre Kreise ziehen. Ich kann es kaum erwarten hinunter zum weißen Sandstrand und dem glitzernden Meer zu kommen! Überglücklich springe ich ins türkisblaue Wasser und bestelle mir in einer Strandbar einen riesigen Hamburger.

Die letzte Etappe nach Fethiye laufe ich am nächsten Tag wie auf Wolken. Ich bin so stolz auf mich und meinen Körper und dass wir die anspruchsvollen Geröllpfade und die eisige Kälte des Likya Yolu tatsächlich gemeistert haben. So viele neue Dinge durfte ich in diesen vier Wochen über mich lernen und ich bin unglaublich gespannt darauf, was diese Reise noch alles für Abenteuer und Herausforderungen für mich bereithält – doch von nun an werde ich versuchen, sie ganz gelassen anzugehen!

Infos zum Lykischen Weg in der Türkei

Anreise & Verlauf

Über den Flughafen Antalya ist die Halbinsel Lykien gut zu erreichen. Vom Flughafen und von der Stadt aus gibt es sehr gute Busverbindungen nach Fethiye oder jeden anderen größeren Ort entlang der Lykischen Küste.

Auch ohne Flugzeug kommt man einigermaßen unproblematisch und günstig, wenn natürlich auch weniger schnell in die Türkei. So gibt es mit dem Optima Express zum Beispiel eine direkte Zugverbindung zwischen Villach in Österreich und Edirne im äußersten Westen der Türkei. Zudem kann man mit zwei Nachtzügen von Wien über Bukrates bis nach Istanbul und von dort weiter per Zug bzw. Bus zum gewünschten Ausgangspunkt der Wanderung  fahren. Aktuell wird scheinbar auch an einer Schnellzug-Strecke gebaut, die die Strecke Istanbul – Antalya in rund 5 Stunden ohne Umweg verbinden soll.

Wie schon erwähnt, starten die meisten ihre Wanderung in Fethiye und laufen die insgesamt 26 Etappen von West nach Ost. Die Wenigsten gehen allerdings die kompletten fünfhundert Kilometer und durch die guten Busverbindungen ist es meist auch kein Problem, zu anspruchsvolle Etappen zu überspringen.

Übernachten

Entlang des Weges gibt es zahlreiche Hotels, und auch in den kleinen Dörfern gibt es mittlerweile viele kleine  – oft sehr einfache – Pensionen. Die meisten davon haben jedoch über den Winter und bis in den März hinein geschlossen. Ist man also im Winter oder Frühjahr unterwegs, sollte man unbedingt eine Campingausrüstung dabei haben. Außerdem gibt es entlang des gesamten Likya Yolu unglaublich viele tolle Campingstellen und das Wildzelten ist in der Türkei fast ohne Einschränkungen erlaubt.

Tatsächlich ist auch das abendliche Lagerfeuer nicht verboten – hier sollte man aber wirklich wissen, was man tut und bei längeren Trockenperioden oder generell im Sommer lieber darauf verzichten.

Orientierung & Verpflegung

Der Lykische Weg ist relativ gut markiert, ich würde aber jedem empfehlen, entweder ein GPS-Gerät oder eine Navigations-App auf dem Handy dabei zu haben, mit der man auch offline navigieren kann. Außerdem ist die Mitnahme eines Wasserfilters empfehlenswert, denn auf einigen Abschnitten ist man eventuell auf das Wasser von Brunnen oder Zisternen angewiesen. Genauso muss man bei einigen Etappen eventuell für zwei Tage Proviant einpacken, doch generell kommt man eigentlich immer einmal am Tag zumindest an einem kleinen Kiosk vorbei.

Reisezeit & Wegbedingungen

Theoretisch kann man das ganze Jahr über auf dem Likya Yolu unterwegs sein. Die angenehmsten Monate sind aber wohl im Frühjahr und im Herbst. Ist man so wie ich bereits im März unterwegs, sollte man sich auf Einsamkeit und in den Bergen auch auf Schnee einstellen. In den Sommermonaten ist es meist zu heiß für ausgedehnte Wandertouren und in den Wintermonaten muss man mit viel Niederschlag rechnen.

Nicht unterschätzen sollte man außerdem die Wegbedingungen. Der Lykische Weg ist kein europäischer Premium-Wanderweg und man ist oft auf anspruchsvollen Geröllpfaden unterwegs. Umso beeindruckender ist allerdings die wunderschöne Natur um einen herum, denn es gibt wirklich nur ganz wenige Abschnitte, auf denen man auf Asphaltstraßen unterwegs ist.

Weitere Infos zum Lykischen Weg

Für die Planung und auch unterwegs hatte ich den kleinen gelben Wanderführer zum Lykischen Weg vom Conrad Stein Verlag (Werbelink) dabei, der übrigens gerade erst (2024) in einer aktualisierten Auflage erschienen ist:

Über die Gastautorin

Johanna Geils ist selbständige Erlebnispädagogin und Abenteurerin. Geboren 1990 in einem kleinen Dorf in Niedersachsen, studierte sie in Bremen Angewandte Freizeitwissenschaft und ging für ein Semester nach Nicaragua. Sie war in Australien und Südamerika unterwegs und verbrachte über zwei Jahre als Outdoor Instructor in Großbritannien. Wenn sie nicht gerade die Welt bereist, arbeitet sie u.a. für Naturparks, Erlebniswelten und Medienunternehmen.

Mehr zu Johanna und ihren Abenteuern findet ihr auf Instagram und Youtube.

Über ihre Reise in der Hängematte von Zypern bis zum Nordkap hat Johanna auch ein Buch geschrieben: “Über mir der Sternenhimmel” ist 2024 im Knesebeck-Verlag erschienen.

“Einfach den Rucksack packen und loswandern! Draußen sein, sich der Natur mit all ihrer Schönheit und Wildheit ausliefern, Abenteuer erleben und vor allen Dingen: immer unter freiem Himmel schlafen. So lautet der Plan, als Johanna Geils im Februar 2022 zu ihrer fünfmonatigen Reise von Zypern ans Nordkap aufbricht. Ohne Zelt, nur mit Hängematte im Gepäck, reist sie allein und größtenteils zu Fuß durch elf Länder vom Süden bis ganz in den Norden Europas. Packend und mitreißend erzählt sie in ihrem Reisebericht davon, was man erlebt, wenn man den Mut aufbringt, seiner Leidenschaft zu folgen, alle Ängste und Zweifel über Bord wirft und einfach losläuft.

Über zweitausend Kilometer hat Johanna Geils auf den spektakulärsten Wanderwegen Europas wie dem Likya Yolu, dem Alpe Adria Trail oder dem St. Olavsweg zurückgelegt. Mit einer ordentlichen Portion Durchhaltevermögen, aber auch mit einem leichten Hang zur Selbstüberschätzung, erlebt sie auf ihrem Europatrip einmalige Abenteuer. Sie berichtet von Temperaturstürzen, unerbittlichen Regentagen und stürmischen Nächten, von Einsamkeit, Zweifeln und Verletzungen, aber auch von einmaligen Naturerlebnissen zwischen Fjorden, Bergen und Wäldern, von spektakulären Übernachtungsplätzen unter den Sternen und schließlich auch von der unfassbaren Gastfreundschaft der Menschen auf ihrem Weg.

Ergänzend zu ihrem Reisebericht, gibt Johanna Geils auch zahlreiche Tipps und Tricks für die eigene Wanderreise vor allem für Frauen. Eine Reiseerzählung, die Mut macht, selbst den Rucksack zu packen und loszuziehen!”

erhältlich zum Beispiel bei Amazon (Werbelink) und Genialokal


Habt ihr Lust auf den Lykischen Weg bekommen, oder wart ihr vielleicht sogar selbst schon dort unterwegs? Wir freuen uns auf deinen Kommentar!

1 Comment

  1. Jennifer Theil Reply

    Danke für den tollen Reisebericht!
    Morgen legen mein Freund und ich los. :) „Aufgewärmt“ haben wir uns in den letzten Monaten in Asien (Berg- und Vulkanwanderungen). Mal sehen, wie unsre erste echte Fernwanderung auf dem Lykia Yolu verläuft.

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