Die kleine beleuchtete Kirche scheint in der Dunkelheit zu schweben. Die Umrisse der Berner und Walliser Alpen heben sich als gezackte Linie gegen den mit Sternen übersäten Himmel ab. Der Mond ist schon vor einigen Stunden untergegangen, dafür verfärbt sich der Himmel im Osten langsam zu einem dunklen Blau. Höchste Zeit, die Stirnlampe anzuknipsen und das kleine Apartment in Bettmeralp zu verlassen – nicht ohne selbst gebackenes Bananenbrot im Rucksack, denn zum Frühstücken ist es noch viel zu früh.

bettmeralp kirche bei nacht

Knapp zweitausend Meter liegt der  Ferienort am Nordhang über dem Rhonetal im Oberwallis, doch von den dazugehörigen Feriengästen ist weit und breit noch nichts zu hören oder zu sehen. Selbst die Kühe knabbern noch halb verschlafen und in liegender Position an den umliegenden Grasbüscheln. Die Glocken um ihren Hals sind stumm. Am Bettmersee oberhalb des Ortes taucht eine weitere Stirnlampe auf – ein Fischer, der jetzt früh morgens sein Glück versucht. Ein kurzes Grüezi mitenand, und weiter geht’s, immer bergauf und Richtung Gletscher, der auf der anderen Seite des Bergkammes liegt. Nicht irgendein Gletscher, sondern der größte und längste der Alpen.

Der Weg ist steil, das Wandern auf Grund der Uhrzeit und der Höhe anstrengend, doch ich werde nicht langsamer, denn der Himmel beginnt bereits, erste Anzeichen von Morgenröte zu zeigen. Für einen Moment halte ich doch inne, der Anblick des Matterhorns in der Ferne ist zu schön. Einige hundert Höhenmeter später bin ich am Ziel, und auch nicht. Denn vom Bergkamm aus sehe ich zwar den Gletscher, aber eigentlich will ich runter zum Rand. Zuvor mache ich es mir aber mit Bananenbrot auf einem Stein gemütlich und hafte meinen Blick an die eisige Zunge des Gletschers.

Der Aletschgletscher entspringt in der rund 3.800 Meter hohen Jungfrauregion und zieht sich von dort in einer großen Rechtskurve auf rund 22 km Länge durch die Berglandschaft. Messungen von Wissenschaftlern haben ergeben, dass der Gletscher am Konkordiaplatz – dem Ursprungsgebiet – zudem rund 900 Meter tief ist. Würde man das komplette Eis schmelzen, könnte jeder Mensch auf der Welt rund vier Jahre lang täglich mit einem Liter Wasser versorgt werden.

Charakteristisch sind die beiden dunklen Linien aus Schutt, die sich längs über den kompletten Gletscher ziehen. Sie entstehen, weil dieser ein Zusammenfluss aus drei unterschiedlichen Firnströmen ist. Erst als die Gipfel von Geisshorn und Gross Fusshorn die ersten Sonnenstrahlen abbekommen, beende ich mein Frühstück mit einmaliger Aussicht und mache mich auf den Weg hinunter zum Eis. Murmeltiere nutzen die großen Felsblöcke, die weit verstreut über den blumigen Wiesen liegen, als Beobachtungstürme. Zusammen mit den weit vertreuten Nadelbäumen erinnert alles ein wenig an viele meiner Wanderungen im Nordwesten der USA, nur dass die Murmeltiere dort deutlich größer geraten.

aletsch gemsen

Gemsen beobachten mich mit einem Abstand, während ich dem kleinen Pfad hinunter zum Gletscherrand folge. Je näher ich dem Aletschgletscher komme, desto greifbarer werden seine Ausmaße, und desto kälter die Umgebungstemperatur. Die aufgetürmten Schollen und tiefen, hellblau leuchtenden Spalten, die von oben nur als grobes Muster zu erkennen waren, nehmen Gestalt an, und ich wage mich auf den mit Schotter überzogenen Rand des Eises. Kurze Zeit später ist allerdings Schluss, denn ohne Steigeisen, Seil & Co. geht es nicht weiter. Mit der richtigen Ausrüstung und dem entsprechenden Know-How könnte man den ganzen Gletscher entlang steigen, bis zur Konkordiahütte an dessen Ursprung.. Ich steige wieder hinauf zum Kamm und treffe auf den Aletsch-Panoramaweg, der für  meine Trailrunning-Schuhe schon eher geeignet ist.

Der Wanderweg führt auf dreißig Kilometern von der Belalp nach Bellwald und kann auf bis zu drei Wanderetappen mit Übernachtungen aufgeteilt werden. Auf diesem Abschnitt folgt der Weg am Hang von Bettmerhorn und Eggishorn dem Verlauf des Gletschers und ohne Gletscherausrüstung ist das definitiv die beste Möglichkeit, um diesen in seiner ganzen beeindruckenden Erscheinung zu erleben. Walliser Schwarznasenschafe säumen den Weg und stehen bereitwillig als Fotomodell zur Verfügung. Dort wo der Gletscher in Richtung Konkordiaplatz abbiegt, führt der Wanderweg von ihm fort und hinein in eine kleine Wunderwelt aus Wollgras und Seen, die ihren Höhepunkt in frischen Rösti in der Gletscherstube am Märjelensee findet.

Als die Rösti verspeist sind und ich einen letzten Blick zurück zum Gletscher werfe, bevor ich auf der anderen Seite der Bergkette zurück nach Bettmeralp wandere, spüre ich etwas Wehmut. Das passiert immer, wenn ich einen für mich eindrucksvollen Ort verlasse, aber dieses Mal ist die Wehmut noch ein bisschen stärker. Denn nach Einschätzungen von Glaziologen werden der Große Aletsch sowie auch ein Großteil der anderen Gletscher der Alpen wegen des Klimawandels bis Ende dieses Jahrhunderts weitestgehend verschwunden sein. Und daran ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht mehr zu rütteln, selbst mit den größten Anstrengungen zur CO2-Reduktion.

Was nach dem Eis kommt, weiß niemand so genau. Vermutlich wird sich im Bereich des Konkordiaplatzes ein großer See bilden, vielleicht sogar der größte der Schweizer Alpen. Bestimmt wird die Region auch dann noch einen Besuch wert sein, allein schon wegen der umliegenden Bergwelt. Und bis es soweit ist, kann man den größten Gletscher der Alpen ziemlich gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln besuchen und an seinem Rand oder auf seinem Eis entlang wandern, ganz ohne die Klimaerwärmung zusätzlich zu befeuern.

aletschgletscher

Reiseinfos für das Aletsch-gebiet

Anreise

Riederalp, Fiescheralp und Bettmeralp sind die drei Hauptferienorte am Aletschgletscher, die alle autofrei und nur per Seilbahn zu erreichen sind. Das Auto kann man an der jeweiligen Talstation abstellen – oder noch umweltfreundlicher – einfach direkt zuhause lassen. Das Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln ist in der Schweiz sehr gut ausgebaut und Brig, der nächste größere Ort, schnell und kompliziert von Zürich über Bern zu erreichen. Von dort aus sind es nur noch wenige Minuten mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn bis zu den jeweiligen Talorten der Seilbahnen.

Unterkünfte

In Riederlap, Fiescheralp und Bettmeralp gibt es viele Unterkünfte, insbesondere Ferienwohnungen und einige Hotels. Im Tal in Fiesch gibt es zudem eine Jugendherberge. Ich habe in dieser Ferienwohnung in Bettmeralp gewohnt, die relativ günstig ist sowie eine ruhige Lage mit schöner Aussicht von der Terrasse aus hat. Über diesen Link (Werbelink) bekommst Du bis zu 34 Euro Guthaben für Deine erste Buchung auf Airbnb!

Beste Reisezeit

Fürs Wandern im Aletschgebiet eignen sich vor allem die Sommermonate Juli, August und September, denn durch die Höhe von 2000 Metern und mehr ist ansonsten immer mit Schnee zu rechnen. Selbigen gibt es im Winter dafür reichlich, weshalb die Aletscharena ein beliebtes Wintersportgebiet ist.

Wanderungen

Auf der Webseite der Aletscharena findest Du eine praktische Übersichtskarte mit vielen Tourenvorschlägen für die Region. Meine Tour war im Wesentlichen die Große Drei-Seen-Tour über Blauesee, Bettmersee und Märjelensee. Für den Abstieg zum Gletscher (auf dem Grat mit “Gletscherrand” ausgeschildert) sind nochmal rund 350 Höhenmeter zu überwinden. Zudem kann man geführte Touren auf dem Gletscher buchen, die in der Regel von der Gletscherstube starten.


Warst Du auch schon mal am Aletschgletscher? Ich bin gespannt auf Deinen Kommentar!

4 Comments

  1. Schöner Beitrag, Kompliment. Und auch schön, dass Du auf die Problematiken der Gletscher bzw. deren Schmelze hinweist! Erlaube mir – als Schweizer – eine klitzekleine Korrektur:”Rösti” schreibt sich immer in der Einzahl. Es ist und bleibt “die Rösti”. Egal, wie viele Portionen man davon verspeist. Verziehen? Liebe Grüsse aus der Schweiz von Teddy B.

    • Fräulein Draußen Reply

      Also “als die Rösti verspeist ist”, oder wie? :D Vielen Dank Dir, soll ja alles seine Ordnung haben hier. ;-)

  2. Liebe Kathi, es gibt geführte Gletschertrekking-Touren über den Aletschgletscher: Vom Jungfraujoch über die Konkordiahütte zur Fiescheralp in zwei Tagen. Kann ich Dir nur empfehlen.
    Es gibt wenige Plätze in der Schweiz, die so abgelegen sind. Und die kaum fassbare Grösse des Gletschers (oder was noch davon übrig ist) ist einfach gigantisch.
    Ich habe die Tour 2018 gemacht. So ziemlich jeder Bergführer/jede Bergführerin in der Schweiz bietet das an. Es gibt auch die Möglichkeit, dass man sich einer Tour anschliesst (je nach Anbieter), so verteilt man die Kosten auf mehrere Köpfe. Oder man hat selbst das Zeug (Wissen, Erfahrung und Ausrüstung) dazu, dann kann man es auch ohne Bergführer machen.
    Moritz

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